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Es mußte bald Zeit zum Abendessen sein, und in Kürze würden Gilon und Kitiara kommen, um ihn abzuholen. Es waren mindestens drei Stunden vergangen, ohne daß er eine Ahnung hatte, wo der Zaubermeister steckte. Wo mochte Morat so lange stecken? Und was sollte Raist jetzt tun?

Alles war still. Die Bibliothek war jetzt praktisch dunkel, nur ein blasser Lichtschein fiel noch von oben herein und erleuchtete die Mitte des Raums.

Gegenüber von Raistlins Platz beschien das Licht neben Morats Stuhl das Buch, das der Meister für sich selbst herausgesucht und bereitgelegt hatte.

Als Raist dieses Buch anschaute, fragte er sich, welche Weisheiten es wohl enthielt. Mit den Fingern trommelnd, griff der kleine Junge über den Tisch, mußte sich jedoch auf seinen Stuhl stellen, um an das Buch zu gelangen.

Dann konnte er die Worte auf dem Einband lesen.

Die Geschichte der Gegenwart bis zum heutigen Zeitpunkt, niedergeschrieben von Astinus, lautete der verheißungsvolle Titel auf der Vorderseite.

Die Geschichte der Gegenwart! Raist fragte sich, was in diesem ungewöhnlichen Buch stehen mochte. Er brannte vor Neugier.

Aber er blieb noch weitere zehn Minuten bewegungslos sitzen.

Als er dann immer noch niemanden hörte oder sah, stellte sich Raistlin wieder auf den Stuhl und lehnte sich über den Tisch, um den Einband zu berühren. Er betastete den Buchrücken, befühlte die herausgehobenen Buchstaben des Titels und strich über die scharfen Kanten der Seiten. Auf seinem Gesicht stand ein drängender, fast gieriger Ausdruck, als ob er sich darauf konzentrieren würde, irgendeine Mitteilung durch die Fingerspitzen zu erhalten.

»Ähem.«

Die Stimme hinter ihm ließ Raist hochschrecken und herumfahren. Vor ihm stand der Zaubermeister und runzelte die Stirn.

Raistlin hatte weder gehört, wie die Türen der Bibliothek sich geöffnet und geschlossen hatten, noch wie Morat hereingekommen war. Der Zaubermeister hatte eine flackernde Kugel dabei, die die Bibliothek in tanzendes, gelbes Licht tauchte. Er glitt um seinen Stuhl und setzte sich, wobei er die Kugel abstellte. Dann griff er betont herüber, um die Geschichte der Gegenwart wieder auf seine Seite des Tisches zu ziehen.

»Was hast du gemacht?« fragte Morat barsch.

»Nun«, begann Raist verlegen, während er wieder auf seinen Stuhl rutschte und Morat in die ärgerlichen, schwarzen Augen schaute, die ihn anstarrten. »Mit dem Buch mit den ganzen Zahlen und Rechenbeispielen war ich vor zwei Stunden fertig, darum habe ich mit den anderen beiden angefangen, die Ihr mir herausgesucht habt, die über Geographie und Elfengeschichte. Die habe ich auch ganz gelesen, und dann« – Raist versagte fast die Stimme – »ich glaube, dann bin ich ein paar Minuten eingeschlafen.«

»Eingeschlafen!« polterte Morat wütend.

»Nur ein paar Minuten«, wiederholte Raistlin leise.

Unheilvolles Schweigen machte sich breit, während jeder wartete, daß der andere noch etwas sagte.

»Ich glaube«, sagte Raist nach langer Pause, »daß ich mir eine ganze Menge aus allen drei Büchern merken konnte. Sicher kann ich fast jede Frage über den Inhalt beantworten. Wenn das das Ziel der Aufgabe war…« Seine Stimme brach ab, weil ihn unter Morats starrem Blick das Selbstvertrauen verließ.

»Nein«, sagte Morat, der ihm grob ins Wort fiel. »Ich meine, was hast du mit diesem Buch gemacht?« Er wies erzürnt auf die Chronik von Astinus. »Dieser überaus kostbare Band ist nur für weitsichtige Augen und nachdenkliche Gelehrte gedacht – nicht für Schüler, und ganz gewiß nicht für Kinder. Dieses Buch hast du deshalb nicht bekommen, weil es nur für mich ist.«

Morat starrte ihn mißbilligend an, und Klein-Raist senkte – endlich sichtlich eingeschüchtert – den Blick.

»Ich habe es nicht aufgeschlagen«, meinte Raist entschuldigend.

»Du hast es gelesen!« beschuldigte ihn Morat.

»Hab’ ich nicht«, erwiderte Raist, der erstaunt aufsah.

»Komm schon, Junge. Was hast du denn dann gemacht?« fragte der Zaubermeister zynisch. Seine Augen beobachteten Raist.

»Ich habe es angefaßt«, sagte Raist, der dem Blick des Meisters wieder standhielt.

»Angefaßt!« höhnte Morat.

»Ja«, sagte Raist etwas sicherer. »Mehr nicht!«

»Darf ich fragen, warum?«

Pause. »Ich weiß nicht, warum«, meinte Raistlin schließlich. »Ich wußte, daß Ihr es für Euch selbst bereitgelegt hattet und daß ich es nicht lesen sollte, aber ich wollte es wenigstens anfassen. Ich wußte nicht, daß das etwas schadet.«

»Du hattest nichts damit zu schaffen«, beharrte Morat.

Raist biß sich wütend und tief enttäuscht auf die Lippe. Nach der ganzen, stundenlangen Anstrengung so zu versagen, bei dieser unerwarteten Prüfung der Selbstbeherrschung! Er hätte am liebsten losgeheult, doch er wollte sich – wie sein Schwester Kitiara – keine Blöße geben, nicht vor diesem hartherzigen Zaubermeister. Diese Genugtuung würde Raist Morat nicht lassen.

»Na schön, Junge, der Tag ist vorbei. Dein Vater und deine Schwester sind da. Ich danke dir, daß du nicht weiter meine Zeit verschwendest.«»Ja, dein Sohn ist begabt, aber ich bezweifle, daß er unser strenges Programm hier körperlich durchsteht. Nach dem Lernen am Nachmittag war der Junge allen Ernstes so erschöpft, daß er über seinen Büchern eingeschlafen ist.«

Morat sprach mit fester Stimme. Er und Gilon saßen am Tisch der Bibliothek, die jetzt ziemlich dunkel war und nur noch von der flackernden Kugel vor dem Zaubermeister erhellt wurde.

Gilon stählte sich. »Er ist vielleicht nicht kräftig«, erwiderte Raists Vater hartnäckig, »aber er hat einen starken Willen, und das hier ist das, was er wirklich will. Um ehrlich zu sein, der Junge würde nicht für einen Beruf taugen, bei dem es auf Körperkraft ankommt. Aber für ihn ist Magie keine Laune. Wenn Ihr ihn nicht nehmt, werden wir anderswo hingehen und versuchen, jemanden zu finden, der ihn unterrichtet. Ich habe mich erkundigt, und soweit ich weiß, gibt es einen Zauberer namens Petrock, der bei Haven eine ausgezeichnete Schule leitet.«

Das war von Gilons Seite her ein Bluff, wenn auch ein geschickter. Er schätzte Morat so ein, daß er bestimmt nicht auf den Ruhm verzichten wollte, der dabei abfiel, wenn er einen so begabten Schüler unterrichtete, und sei er noch so jung.

Das Knistern von Papier unterbrach das Gespräch. Raistlin saß im Schneidersitz mit einem dünnen Buch im Schoß in einer dunklen Ecke vor einem der Bücherregale. Morat schoß hoch, als er sah, was Raistlin tat.

Rasch durchquerte er den Raum und riß Raist das Buch aus der Hand. »Junger Mann, ich dachte, du hättest heute gelernt, daß man nicht mit Büchern spielt, die einem nicht gegeben wurden, besonders mit Zauberbüchern!«

Raistlin sah ihn kalt an. »Ich habe nicht damit gespielt. Ich habe es gelesen.«

Schockiertes Schweigen im Raum.

»Ich habe den ›Zauber, um Wasser in Sand zu verwandeln‹ gelesen«, fuhr der Junge trotzig fort, wobei er befriedigt den erstaunten Ausdruck wahrnahm, der über Morats Gesicht glitt. »Ihr könnt mich als Schüler zurückweisen. Aber ich lasse mir doch nicht die Gelegenheit entgehen, eins Eurer kostbaren Zauberbücher zu lesen!«

Morats Gesicht wurde rot vor Wut. Gilon zeigte in einem seltenen Zornesausbruch auf die Tür. »Das reicht, Raist. Du wartest draußen bei deiner Schwester.«

Als Gilon sich wieder umdrehte, hatte der Zaubermeister seine Wut wieder unter Kontrolle. Morat blätterte ein kleines, reich bemaltes Buch durch und überflog zahlreiche handschriftliche Listen und Pläne.

»Er kann zu Anfang der nächsten Woche herkommen«, sagte der Zaubermeister beiläufig, während er zu einer Schreibfeder griff und Raistlins Namen förmlich auf die Schülerliste setzte.

Gilons Kinnlade klappte nach unten. Trotz gewisser Fähigkeiten von Raistlin war sein Vater sicher gewesen, daß er an dieser angesehenen Schule nicht aufgenommen werden würde. Der Holzfäller bekam kein Wort heraus.