Cinnamon kannte sich auf Waldwegen aus. Instinktiv wich sie tiefhängenden Zweigen aus und schnaubte warnend, damit Kit sich ducken konnte, wenn sie in den Weg hinein hingen. Offenbar hat meine Beute keine Ahnung, daß sie verfolgt wird, dachte Kit. Sie waren so unbekümmert wie ein Haufen Gnomen.
Der Bergwald unterschied sich deutlich von der vertrauten Landschaft um Solace. Es roch ungewöhnlich süß, die Luft war feucht, und das Blätterwerk war dicht und dunkel.
Zunächst war Kit von all dem Neuen wie berauscht gewesen, hatte unbekannte Pflanzen und Blumen bewundert, Fährten und Losungen betrachtet und dem Summen der Insekten und dem Zwitschern der Vögel gelauscht. Sie war hingerissen von den kleinen Dingen, die ihr auffielen: dem blauen Reif, der früh morgens auf den Blättern lag; einem komischen Tier mit langer Schnauze und eingerollten Ohren, das sie aus einem Busch anstarrte, ehe es schnell auf allen vieren davonsprang; einer birnenförmigen Frucht mit Stacheln, die sehr sauer schmeckte.
Aber nach einer Weile sah dann alles vor ihr und hinter ihr gleich aus, ein verwaschener, blaugrüner Anblick. Irgendwann wünschte sich Kit, sie würden endlich ihr geheimnisvolles Ziel erreichen. Zwischendurch überlegte sie, ob sie es riskieren sollte, herauszukommen und sich zu zeigen.
Kitiara markierte ihren Weg durch Kerben in Baumstämme, die sie versteckt überall hinterließ.
Sie hatte keine Angst, sich zu verirren. Gregor hatte ihr beigebracht, wie man in der Wildnis überlebte, und seit er fort war, hatte sie sich darum bemüht, noch mehr zu lernen. Gilon und sogar Bigardus, der gutmütige Heiler, hatten sich als brauchbare Quelle des Wissens erwiesen. Sie wußte genug, um notfalls zu Fuß und ohne Vorräte nach Solace zurückzufinden.
Kit konnte nahrhafte Nüsse und Beeren sammeln. Sie konnte ein Feuer so anlegen, daß es windgeschützt war und trotzdem Wärme abgab.
Sie konnte nachts einen flachen Graben für sich ausheben, um Wärme und Schutz zu haben.
In den vielen Bächen, die das bergige Gelände durchzogen, gab es reichlich frisches Wasser. Ihr Schultersack enthielt die einzigen Dinge, die sie hatte mitnehmen wollen und die einzigen Dinge, die sie vielleicht brauchen würde: getrocknetes Fleisch in Streifen, ein Stück Seil, eine beinerne Pfeife, warme, wollene Unterwäsche und ein kleines, schweres Schnitzmesser von Gilons Werkbank. Das war die einzige Waffe, die sie in die Hände bekommen hatte. Die Decke, auf der Kit beim Reiten saß, spendete ihr nachts Wärme.
Nachts erinnerte sie sich an die wenigen Male, wo sie mit Gregor im Freien übernachtet und lange am Lagerfeuer gesessen hatte. Die Augen ihres Vaters hatten sie in Bann geschlagen, während er von eigenen und von fremden Taten erzählt hatte. Dann glitzerten seine dunkelbraunen Augen wie Wasser im Mondlicht. Besonders bei Nacht fielen Kit die Dinge ein, die ihr Vater ihr beigebracht hatte.
»Der Tag kann schön und sonnig beginnen«, hatte Gregor gern gesagt, »und dich im nächsten Augenblick verraten. Geht morgens wie ein wahrer Freund los und ist dann auf einmal dein Feind. Die Nacht ist beständiger – gefährlich und dunkel, schon richtig, aber beständig. Auf die Gefahr kann man sich in einer Weise verlassen, wie man sich nie auf einen Freund verlassen kann.
Manche Leute sind tagsüber so und nachts ganz anders. Aber die Nacht zeigt die wahre Gestalt, denn Dunkelheit beleuchtet einen Mann besser als Sonnenschein, dessen Strahlen die Augen täuschen kann.
Ich kannte zum Beispiel mal einen Ritter, der mit einem jungen Knappen herumzog. Bei Tag war dieser Ritter – er hieß Sarn – einer der großen Recken von Krynn. Ein trinkfester Kamerad und ein kühner Schwertkämpfer. Aber bei Nacht wurde genau dieser Mann richtig handzahm, und sein Knappe, ein kleines Bürschchen namens Winburn…«
Kitiara hatte selten das Ende von Gregors Geschichten mitangehört, denn sie schienen ewig weiterzugehen, während sie einschlief. Heute, wo ihr bei ihrem ersten echten Abenteuer eine weitere einsame Nacht bevorstand, fragte sie sich wieder einmal, was aus ihrem Vater geworden sein mochte. Die Einsamkeit, die Geräusche und die Finsternis dieses Waldes flößten ihr keine Angst ein, sondern waren merkwürdig tröstlich, als ob irgendwo auch Gregor Uth Matar in der Nacht wach saß und an sie dachte.
Am Ende des dritten Tages hatten sie ihrer Schätzung nach über fünfundsiebzig Meilen zurückgelegt und ritten immer noch in Richtung Silberloch durch den Wald. Zunächst hatte sich Kitiara mehrere Stunden hinter Ursa und seinen Männern gehalten, doch am vierten Tag wurde sie ungeduldig. Ohne sich um ihre mögliche Entdeckung zu scheren, schlug sie ein schnelleres Tempo ein, so daß sie sich ihnen auf eine knappe Wegstunde Abstand näherte.
Im Schutz der Dunkelheit beging Kit den zusätzlichen Fehler, sich nah ans Lager zu schleichen, um zu lauschen, weil sie hoffte, sie könnte noch etwas mehr über ihr Ziel herausbekommen. Sie war stolz auf sich, als sie sich durch die Felsen und Bäume langsam einen Weg zu den am Boden kauernden Gestalten suchte. Ursa und ein anderer Mann, beide in Decken gehüllt, wandten ihr den Rücken zu. Der kleine, wieselflinke Mann mit dem Namen Radisson sah in ihre Richtung und redete mit Nachdruck; seine Stimme kannte sie noch vom Markt. Ein vierter, großer Mann stand leicht gebeugt mit traurigem Gesicht neben der Schulter des kleinen Mannes und hörte genau zu. Hin und wieder sagte der mit dem traurigen Gesicht etwas Unverständliches, was beipflichtend klang.
Ihr Tonfall war leise und verschwörerisch, und Kit mußte näher heran als klug war, um überhaupt etwas zu verstehen. Der Kleine erklärte eine Strategie. Sie konnte nur gelegentlich ein paar Wortfetzen aufschnappen wie »beträchtliches Vermögen« und »die Gelegenheit ist günstig«. Diese Hinweise auf ihren Auftrag ließen Kit noch neugieriger werden. Auf Händen und Knien kroch sie so weit vorwärts, daß sie nur noch hätte aufspringen und sie anspucken müssen.
Da fiel auf einmal etwas Großes, Schweres auf Kits Rücken und warf sie zu Boden. Sekundenlang blieb ihr die Luft weg. Als sie wieder klar denken konnte, wurde sie gerade von der Erde hochgerissen und sah sich Auge in Auge Ursa gegenüber. Der Ausdruck auf seinem finsteren Gesicht verriet Empörung, die sich mit Erstaunen mischte.
»Du schon wieder!« rief Ursa, der sie am Kragen gefaßt hatte. Kit war so benommen, daß sie bloß vergeblich mit den Füßen treten konnte, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen.
Während Ursa sie festhielt, packte jemand anders ihre Hände und fesselte sie hinter ihrem Rücken. Kitiara schaffte es, sich umzudrehen, so daß sie den Vierten sehen konnte.
Der war etwas größer und sehniger als Ursa und hatte obsidianschwarze Haut. Seine Haare fielen ihm schwarz über die Schultern und waren so lockig, daß es aussah, als wäre sein Kopf von zischelnden Schlangen bedeckt. Im Mondlicht erschrak Kit vor den blendend weißen Zähnen in seinem breit grinsenden Mund und dem einzelnen Goldring, der an seinem rechten Ohr baumelte. Seine Hautfarbe und seine gestreiften Pluderhosen ließen sie vermuten, daß er von der fernen Insel Karnuth stammen mußte. Sie erinnerte sich, es hieß, jene Rasse verfüge über ganz besondere Kräfte.
Die Karnuthier sah man allerdings hierzulande nur selten, weil sie angeblich lange Seereisen scheuten.
»Autsch!« rief Kit aus, vor allem, um zu sehen, wie sie reagieren würden, weniger vor echtem Schmerz.
»He, du tust ihr weh«, sagte der Karnuthier etwas mitfühlend. Kit erkannte seine Stimme wieder; sie hatte sie auf dem Markt des Roten Mondes schon gehört – tief und weich, aber mit dem Hauch einer Drohung.
»Ist mir egal«, erwiderte Ursa, der noch fester zupackte. Er lächelte nicht.
»Wer ist das, El-Navar?« fragte eine andere Stimme. »Wen haben wir erwischt?«
Die anderen beiden Söldner eilten herbei, um einen Blick auf Kit zu werfen. Der Karnuthier mit dem Namen El-Navar hatte das Messer in ihrem Stiefel gefunden und hielt es mit einem vielsagenden Blick zu Ursa hoch, ehe er es beiläufig in seinen Gürtel steckte. Sein Grinsen war seltsam trügerisch für jemanden mit einem so wilden Äußeren.