»Großartige Vorstellung, Radisson«, sagte El-Navar zu dem mit dem Wieselgesicht. »In deiner Zeit als Wanderschauspieler hast du scheinbar wirklich etwas gelernt.«
»Wer ist sie?« zischte Radisson. Der Ausdruck auf seinem bleichen, zerfurchten Gesicht war ausgesprochen feindselig.
»Hab’ ich euch nicht gesagt, daß uns jemand folgt?« prahlte El-Navar. Bei jeder seiner Bewegungen glitzerte der goldene Ohrring im Mondlicht. Die anderen nickten zustimmend.
Ursa hatte Kit auf den Boden gestellt, ihr Bündel aufgeknotet und den Inhalt auf dem Boden ausgeleert. Nachdem er darin nichts Interessantes gefunden hatte, legte er ihre Sachen zurück und gab Kits Tasche dem großen, gebeugten Gefährten mit dem traurigen Gesicht, der sie gleichmütig entgegennahm. Dieser Mann hatte noch kein einziges Wort gesprochen.
Danach stieß Ursa Kit zum Lagerplatz voran. Als sie sich wehrte, griff er nach dem Seil um ihre Handgelenke und zerrte grob daran, so daß ihre Schulterblätter sich verrenkten. Sie stolperte praktisch über ihre eigenen Füße, als sie nach hinten gezogen wurde, doch sie protestierte nicht. Diese Blöße würde sich Kitiara nicht geben.
Die drei anderen folgten ihnen, wobei ihre Mienen so unterschiedlich waren wie ihre Persönlichkeiten: El-Navar neugierig und sogar etwas amüsiert; Radisson kalt und mißtrauisch; der mit dem traurigen Gesicht bestürzt. Als Ursa das Lager erreichte, versetzte er Kit einen Stoß, der sie kläglich auf dem Boden landen ließ. Sie rollte über den Boden und schob sich dann mühsam an einem Baumstumpf zum Sitzen hoch. Als sie sich umsah, bemerkte Kit die Zweige und das Buschwerk, womit die Decken vor dem Feuer ausstaffiert waren. Blöd, dieser uralte Trick! Aus ihren Augen sprühte die Wut auf sich selbst und auf ihre Häscher.
Ursa setzte sich auf einen Stein neben ihr. Radisson und der große Mürrische folgten seinem Beispiel etwas weiter abseits. Mißtrauisch musterten sie Kitiara.
»Ihr Pferd steht schätzungsweise eine Meile zurück«, sagte Ursa.
Sein Ton war gleichmütiger und beiläufiger geworden, verriet aber keinerlei Wärme. Nachdenklich pfiff er vor sich hin, während er die Glut des Feuers schürte. Fast unmerklich glitt sein Blick über die Baumkronen.
»Ich bin ziemlich sicher, daß sie allein ist«, sagte er, nachdem er die Umgebung des Lagers eingehend abgesucht hatte.
Die andern beiden warteten offenbar darauf, daß Ursa oder El-Navar eine Entscheidung über Kits Schicksal trafen. Aber Ursa sagte nichts weiter, und El-Navar, der sich am Feuer die Hände wärmte, schien sich für die ganze Sache kaum noch zu interessieren. Jeder wartete anscheinend, daß der andere handelte.
»Was machen wir mit ihr?« jammerte Radisson, der nach einigen Minuten des Schweigens überdrüssig war.
»Sie weiß überhaupt nichts«, sagte Ursa mit Nachdruck.
»Warum ist sie uns dann gefolgt?« wollte Radisson wissen. Der Wind frischte auf und trieb die Blätter um das Lagerfeuer kreisförmig auseinander. Irgendwo weit entfernt heulte etwas. Kit bemerkte, daß den vier Männern unheimlich zumute war, besonders Radisson, dessen Augen in ihren Höhlen hin und her schossen.
Ursa steckte die Hände in die Taschen, um sie zu wärmen. Dabei pfiff er weiter seine Melodie, ohne zu antworten. Er schien Radisson keine Aufmerksamkeit zu zollen, aber seine Augen begegneten Kitiaras Blick. Er runzelte die Stirn.
»Jeder Halbidiot hätte euch folgen können«, schnaubte Kitiara verächtlich. »Selbst ein Mammut ist unauffälliger. Ihr habt überall Abfall und deutliche Spuren hinterlassen. Ihr habt keinen Respekt vor dem Wald.«
Radissons Gesicht wurde noch verkniffener. Seine Hände zuckten unruhig zu dem Messer an seinem Gürtel. Überraschend schnell stand er auf, kam zu ihr herüber und schlug Kitiara mit dem Handrücken so heftig ins Gesicht, daß sie den Schlag schon spürte, bevor ihr klar wurde, daß er kam. Auf der Stelle platzte ihre Lippe auf und begann zu bluten. Kit kämpfte mit ihren Fesseln und biß die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien.
»Hüte deine Zunge«, sagte der Schurke.
Der Karnuthier schien das urkomisch zu finden, denn er bog sich vor Lachen. Als er sich aber wieder aufrichtete, war sein Gesicht ernst. El-Navar zog ein Taschentuch aus der Tasche und wischte Kit überraschend sanft das Blut von Mund und Kinn. Ursas Augen folgten jeder Bewegung.
»Na, na, na, Radisson«, sagte El-Navar energisch. »Kein Grund für solche Männerallüren. Schließlich ist sie fast noch ein Kind, gerade mal zwölf, schätze ich.«
»Dreizehn«, erklärte Kitiara mürrisch. »Fast vierzehn.«
»Und eine recht hübsche Dreizehnjährige, finde ich«, fügte der Karnuthier hinzu. Er faßte Kit etwas grob ans Kinn und zog ihr Gesicht nach oben. Ursa und Radisson schwiegen.
In der Gruppe herrschte plötzlich eine etwas angespannte Stimmung.
»Also, raus mit der Sprache, Mädchen«, fuhr El-Navar strenger fort. »Wie heißt du? Warum bist du uns gefolgt?«
»Kitiara Uth Matar«, sagte Kit eisig. »Du hättest ihn fragen können, wenn du das wissen wolltest«, fügte sie mit einem Wink zu Ursa hinzu.
»Du kennst sie?« fragte der Karnuthier, der sich überrascht zu Ursa umdrehte.
»Ich hab’ sie mal getroffen«, sagte Ursa betont neutral, »als sie noch klein war…«
Kitiara sah ihn trotzig an.
»Sie hat mich in Solace erkannt und ist zu mir gekommen. Ich hab’ sie weggeschickt.«
»Sie weiß, wie wir aussehen, El-Navar«, sagte Radisson matt. »Was weiß sie noch?«
»Sie weiß überhaupt nichts«, erwiderte Ursa kurz angebunden. »Ich finde, wir lassen sie laufen. Was kann sie schon anstellen?«
El-Navar sagte gar nichts. Ob er oder Ursa der Anführer war, war Kitiara nicht klar. Radisson wartete jedoch eindeutig darauf, daß einer von beiden eine Entscheidung traf.
Einzig der große Mann mit der traurigen Miene hielt sich aus der Sache ganz heraus. Er hockte zusammengesunken auf dem Boden, hatte ein zerfleddertes Buch herausgezogen und schien im Feuerschein konzentriert darin zu lesen, wobei sich seine Lippen bewegten. Aus seinem Mund floß die ganze Zeit Speichel, der auf die Seiten tropfte. Die anderen, die zweifellos an seine Marotten gewöhnt waren, beachteten ihn nicht.
El-Navar ging in die Knie, damit er Kit in die Augen sehen konnte. »Was sagst du dazu, Kitiara?« fragte er. »Warum bist du uns gefolgt?«
Sein Ton war freundlicher geworden, doch seine Augen glitzerten hart wie Diamanten. Der goldene Ring baumelte herab, als er sich nach vorn beugte.
»Ich wollte mitkommen«, sagte sie unbestimmt.
»Wie?« fragte Radisson barsch. Ursas Gesicht verriet keine Regung.
»Mitkommen. Ich wollte mitkommen«, wiederholte Kit, diesmal mit mehr Entschlossenheit.
El-Navar ließ ihr Kinn los und stand kopfschüttelnd auf. Er lachte in sich hinein. Das schien die Spannung zu brechen, und sogar Ursa brachte ein zaghaftes Lächeln zustande. Der traurige Lesende, der über seinem Buch hing, ignorierte sie weiterhin. Nur Radisson sah verwirrt und verärgert aus.
»Wer sind wir denn, ein fahrendes Waisenhaus?« fragte El-Navar.
»Nein.« Kit zögerte. »Ich wollte mithelfen, mit Gwatmeys Sohn fertigzuwerden«, wagte sie sich kühn vor.
Das Lächeln verschwand. Selbst der Lesende hatte den Satz gehört und sah besorgt auf. Ursa sprang auf und zog El-Navar beiseite, wo er flüsternd auf ihn einredete. Radisson funkelte Kit an. El-Navar warf einen Blick über die Schulter und nickte dann zustimmend.
Er löste sich von ihm. Ursa setzte sich wieder.
»Wieviel weißt du?« fragte El-Navar angespannt.
»Zuviel! Jetzt müssen wir sie töten!« rief Radisson aus.
»Versucht’s doch!« meinte Kit herausfordernd. Wieder sprang Radisson überraschend schnell auf sie zu, doch diesmal war El-Navar schneller und hielt ihn auf, indem er den Kleineren beiseite schubste. Radissons Blicke hätten töten können, doch er konnte nichts gegen den Größeren tun, dessen charismatische Person – abgesehen von seiner Größe – Respekt einflößte.