Sie ritten über eine Stunde lang zügig voran und waren jetzt auf steilem, steinigem Gelände, das ins Ostwall-Gebirge führte. Kitiara schätzte, daß sie etwa eine Stunde von Silberloch entfernt waren und daß die Straße, die sie gelegentlich unten rechts zu sehen bekamen, die Hauptstraße war, auf der man mehrere Tage brauchte, um diese Bergkette zu umgehen. Sie war noch nie so weit im Norden gewesen, doch von groben Karten wußte sie, daß Silberloch am Fuß der Kette lag, die weiter oben bis auf vereinzelte Stellen praktisch unpassierbar wurde.
Nachdem sie noch etwas weiter geritten waren, kamen sie an ein wahres Labyrinth von Schluchten und Klamms. Sie hielten sich näher an die Hauptstraße, bis dann El-Navar weiter vorn ein Zeichen gab. Er zeigte nach Osten, saß ab, band sein Pferd fest und verschmolz mit den Steinen. Radisson und Trauerkloß ritten weiter, um dann bei El-Navars Pferd zu warten.
Als auch Kit nach vorn wollte, hielt Ursa die Zügel ihres Pferdes fest und zeigte hinter ihnen nach oben, einen steilen Abhang hoch.
»Da rauf«, sagte er, während er seine graue Stute wendete. Kit folgte ihm minutenlang direkt den Abhang hoch. Ursa ritt weiter Richtung Osten, und Kit folgte ihm, bis sie einen Absatz erreicht hatten, der über das Tal ragte und einen guten Blick auf eine Stelle erlaubte, wo die Hauptstraße sich geschmeidig durch die Felsen wand. Inzwischen konnte sie von El-Navar, seinem Pferd und ihren zwei anderen Gefährten nichts mehr erkennen.
Ursa gab ihr einen Wink, so still wie möglich zu sein. Er machte sein Pferd fest und kroch zum Rand des Felsvorsprungs. Kitiara folgte seinem Beispiel und schlich langsam auf Händen und Knien heran, bis sie beide über den Rand spähen konnten. Unten war niemand zu sehen. Ursa wies sie an, ihm zurück zu folgen, was sie tat, bis sie wieder bei den Pferden waren.
»Das ist die Stelle«, sagte Ursa mit leiser Stimme. »Und das ist deine Aufgabe…« Rasch stellte Ursa ihren Teil des Plans dar. Kitiara hatte die Demütigung am morgen immer noch nicht überwunden.
Trotz machte sich auf ihrem Gesicht breit, während sie zuhörte. Obwohl sie jetzt wußte, was sie bei der Sache zu tun hatte, hatte niemand sich darum geschert, ihr zu verraten, was am Ende für sie herausspringen würde. Oder worum es eigentlich ging. El-Navar hatte sie gestern abend angewiesen, einfach ihren Teil zu erledigen und alles andere zu vergessen. Aber sie war es leid, von allen wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen zu werden.
»Was ist, wenn etwas schief geht?« fragte Kit Ursa. »Oder wenn ich euch… helfen… oder retten muß?«
Ursas Gesicht war noch undurchschaubarer als je zuvor.
Als sie ihn zum ersten Mal getroffen hatte, war er sehr ironisch und lustig gewesen, aber jetzt war in seinem eisernen Blick nichts davon zu erkennen.
»Wenn etwas schiefgeht«, fuhr Ursa sie an, »läufst du weg. Du hast eine einfache Aufgabe: Mach deinen Teil und laß dich nicht erwischen. Bleib vor deinen Verfolgern, laß nicht zu, daß sie dich genauer ansehen können. Dann kehrst du um und triffst uns wieder. Mehr hast du nicht zu tun. Wenn du das schaffst, reicht das völlig.«
Kit schwieg und zog einen Schmollmund.
»Wenn etwas schiefgeht, dann denk dran: Du kennst uns nicht, und du bist nie hier gewesen.«
Er klopfte Kit auf die Schulter und stieg auf sein Pferd. Nachdem er es gewendet hatte, warf er ihr noch einen Blick über die Schulter zu. Sein Ausdruck wurde freundlicher, und einen Augenblick lang lag wieder etwas von dem alten Ursa in seinen dunklen Augen, etwas Einmaliges und Warmes. »Viel Glück«, sagte er und winkte beim Fortreiten.
Eine weitere Stunde verstrich. So hoch oben gab es nur wenig Bäume, die Kitiara Schatten spenden konnten. Das Sonnenlicht, das von den Felsen zurückgeworfen wurde, blendete sie; die Hitze war fast zu greifen. Kitiara hörte nur hin und wieder die Geräusche von einem Vogel oder einem Tier, und sie blickte so angestrengt nach unten auf die Stelle, wo die Straße eine Kurve machte, ohne etwas zu sehen, daß vor ihren Augen lauter Punkte flimmerten. Sie kam sich vor wie mitten in einem wirbelnden Schneesturm, wenn alle Farben dem Weiß gewichen waren. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihre Augen zu schließen, sich hinzulegen und einzuschlafen, doch sie erinnerte sich, was El-Navar und Ursa gesagt hatten. Sie mußte wach bleiben und ihre Aufgabe erfüllen.
Dann hörte sie, wie jemand näherkam, und duckte sich sofort. Aufgeregt schob sich Kit auf Händen und Knien nach vorne, bis sie gerade eben über den Rand blinzeln konnte. Sie konnten sie bestimmt nicht sehen, weil sie die Sonne gnadenlos blendete. Doch Kit ging kein Risiko ein und blieb unten.
Sie konnte ein Stück von der steinigen Straße erkennen, wo diese zwischen den zerklüfteten Felsen hervortrat. Dort ging die Straße mehrere hundert Meter weiter, verschwand dann wieder in den Felsen, bevor sie endlich wieder ganz in Sicht kam. Den ersten Teil der Straße beobachtete sie genau, denn sie wußte, daß Ursa und seine Söldner hinter den Felsen warteten, die die enge, zweite Kurve verbargen.
Ohne Vorwarnung tauchte ein Berittener oben an der Straße auf. Er trug eine Rüstung, die in der Sonne wie Silber glänzte. Außerdem hatte er einen Helm und eine kurze Lanze mit einem lila Federbusch. Er war offenbar auf der Hut, als er langsam ins offene Gelände herausritt. Sein Pferd, ein prachtvoller Fuchs, tänzelte nervös. Aber der Anführer mit dem Helm behielt sein Tempo bei. Dicht hinter ihm folgten weitere Männer zu Pferd.
Bei den Göttern, es waren über ein Dutzend Reiter in voller Rüstung und dabei schwer bewaffnet. Einige trugen farbenprächtige Uniformen, andere einfache Kleider. Die Männer mit Rüstung hatten ausgezeichnete Waffen, während die anderen, die wahrscheinlich Landarbeiter waren, Speere trugen.
Dieser beeindruckende Trupp war den Vieren, die ihm auflauerten, an Zahl und Bewaffnung weit überlegen. Erschrocken fragte sich Kitiara, ob sie Ursa und den anderen irgendwie ein Zeichen geben sollte. War ihnen klar, mit wieviel Männern sie es aufzunehmen hatten? Hatten sie die ganze Zeit geplant, einen solchen Gegner zu besiegen? Kit stieß einen leisen Überraschungslaut aus, als sie eine Gestalt in der Mitte der Gruppe ausmachte, die auf einem blassen Rotschimmel ritt, dem besten Pferd von allen. An dessen schmucken Sattel war eine kleine, verzierte Kiste gebunden, die – wie Kit vermutete – das begehrte Objekt enthielt.
Der Reiter dieses Pferdes war jung und schlank. Er hatte einen Schnurrbart und kurze, schwarze Haare und war unbewaffnet. Gekleidet war er in eine schwarze Herrenweste und eine weiße Spitzenbluse, und selbst von hier oben, aus einer Entfernung von mehreren tausend Schritt – besonders auf eine solche Entfernung –, erkannte Kitiara, daß man ihn leicht mit ihr verwechseln konnte.
Sie duckte sich noch tiefer und sah zitternd zu, wie die ersten Reiter hinter der Kurve verschwanden. Der Rest des Gefolges kam einzeln nach. Scheinbar endlos – in Wirklichkeit vielleicht nur einige Momente – herrschte gespannte Stille. Die Reiter würden etwa fünf Minuten brauchen, bis sie um die Kurve waren, schätzte Kit. Doch die Stille hielt an, bis Kitiara glaubte, sie müßte schreien. Es war, als würde alles schweigen, die Vögel, die Tiere, sogar der Wind. Kitiara verrenkte sich den Hals, konnte aber nichts erkennen.
Plötzlich ringelte sich vom Boden eine Staub- und Rauchwolke hoch. Die Wolke reichte nicht ganz bis zu ihrem Ausguck, so daß sie von oben auf sie herabsehen konnte. Sie hatte eine ungewöhnliche, perlweiße Farbe, die im Sonnenlicht fast durchsichtig aussah, doch innendrin schwirrten kleine, pechschwarze Teilchen herum.
Während sie noch staunte, knisterte die Wolke, und jedes der kleinen, schwarzen Teilchen brach auf. Soweit Kitiara erkennen konnte, stiegen an die tausend schwarze Krähen auf, die krächzten und kreischten und in einer so dichten, entsetzlichen Masse herumflogen, daß Kit die Augen zukniff und die Arme in die Luft warf, um sie abzuwehren. Ob sie echt waren oder nur Illusion, wußte sie nicht, doch als sie nach einigen Sekunden wieder die Augen aufschlug, waren sie allesamt verschwunden. Als sie hinunterschaute, sah sie, daß die perlweiße Wolke sich ebenfalls aufgelöst hatte.