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Während dieses Vorfalls hatte Kit vage mitbekommen, daß unten geschrien, geflucht und gekämpft wurde. Sie meinte, Ursa hätte etwas gerufen. Sie hörte Stöhnen und Todesschreie und hoffte, daß El-Navar nicht unter den Sterbenden war.

Unter ihren Augen kamen mehrere der Ritter und Feldarbeiter um die Kurve herum geritten, wo sie offenkundig verwirrt haltmachten, als wäre etwas, das sie gejagt hatten, auf einmal verschwunden. Zwei oder drei von ihnen waren verwundet und bluteten. Verdächtigerweise fehlte der junge Edelmann, und Kitiara überschlug schnell, daß von der ursprünglichen Zahl Männer etwa die Hälfte fehlte.

Wie Ursa und seine Männer entkommen waren – falls sie entkommen waren –, wußte Kitiara nicht, aber das hier war ihr Einsatz.

»He da!« rief sie mit der tiefsten Stimme, die sie zustande brachte. Sie stand auf dem Felsvorsprung, wo sie für die dort unten deutlich sichtbar war, und winkte mit den Armen. Auf den aufwärts gerichteten Gesichtern konnte Kitiara die Verwirrung darüber sahen, daß ihr Herr so weit oben und so fern war. »Hier hoch!« rief sie. »Schnell!«

Dann fegte Kit außer Sichtweite, um auf die wartende Cinnamon zu springen. Nachdem sie einen Moment gelauscht hatte, registrierte sie zufrieden Stimmengewirr und dann Hufgeklapper auf der Straße. Sie wußte, für den Aufstieg würden sie eine Weile brauchen.

Sie hetzte Cinnamon die Serpentinen eines wenig begangenen Pfads hinauf, der noch höher in die Berge führte. Zweige peitschten Kit ins Gesicht. Scharfe Felsvorsprünge kratzten ihr die Beine auf. Einmal geriet Cinnamon ins Stolpern, und Kitiara mußte absteigen und sie am Zügel ziehen, um die Stute wieder in Gang zu bringen. Kleine Tiere schossen vor Kit über den Weg. Ein ärgerlich kreischender Habicht flog auf.

Nach ein paar Minuten stieg Kitiara ab und suchte sich, noch keuchend vor Anstrengung, eine neue Felsnase, die einen guten Blick über das Gelände unter ihr versprach. Sie wartete. Kurz darauf kam die Gruppe bewaffneter Ritter und Arbeiter in Sicht. Sie sahen sich um, blickten über den Rand und dann nach oben. Als sie nichts entdeckten, begannen sie, miteinander zu streiten.

»He da!« Kit stand wieder auf, winkte wild und sah die überraschten, argwöhnischen Mienen der Männer, als diese sie erblickten. Einer von ihnen schrie ihr etwas zu, was sie nicht verstand.

»Sie sind hier oben! Ich habe einen gefangengenommen. Die anderen – « Kitiara fand es ganz geschickt, den Satz abzubrechen und gleichzeitig zu verschwinden. Sie lauschte kurz und hörte, wie sie sich wieder stritten. Sie wußte, einer oder zwei würden vielleicht zurückbleiben, aber selbst wenn die anderen nicht mehr davon überzeugt waren, daß sie ihr junger Herr war, konnten sie die Chance nicht verstreichen lassen, sich durch ihre Ergreifung zu den anderen Wegelagerern führen zu lassen.

Als Kit Cinnamon wieder bestieg, hörte sie unten die Pferde schnauben und wiehern, bevor sie ihr wieder den felsigen Hang hinauf nachkamen. Sie sah sich um und wählte einen anderen, noch schmaleren und gefährlichen Pfad, der sich nach oben schlängelte. In diesen Bergen konnte sie endlos Haken schlagen und irgendwann die anderen abschütteln, die nicht umkehrten. Sie mußte sich bloß von Silberloch fernhalten, und sie durfte sich nicht verirren!

Stunden später und ein Dutzend Meilen nordöstlich ihres Ausgangspunkts war Kitiara sich sicher, daß sie ihre Verfolger los war und keinen Grund mehr hatte, vorsichtig zu sein.

Bei einem Flußlauf hielt sie an und freute sich über die willkommene Erfrischung. Dann schöpfte sie Wasser und kippte es sich über den Kopf. Cinnamon senkte den Kopf und trank neben ihrer Besitzerin. Kitiara riß sich den Schnurrbart ab und warf ihn ins Gebüsch. Dann gestattete sie sich eine kurze Erholungspause, in der sie auf dem Rücken lag und die Strahlen der bereits absteigenden Sonne genoß.

Kitiara rechnete mit etwa zwei Reitstunden bis sie den Treffpunkt wieder erreichte. Das würde deutlich nach Einbruch der Dunkelheit sein.

Es waren wirklich fast zwei Stunden vergangen, als Kitiara sich dem Lagerplatz der letzten Nacht näherte. Müde und wund hing sie im Sattel, denn sie war viel erschöpfter, als sie gedacht hätte. Auch Cinnamon lief nicht mehr leichtfüßig, sondern schleppte sich regelrecht über den Waldpfad.

Als Kit sich dem Treffpunkt näherte, sah sie überrascht, was dort alles herumlag – zerrissene Kleider, kaputte Waffen, ein paar Münzen, etwas Schmuck und Holzstücke, die zu der Schatzkiste gehört hatten, die Gwatmeys Sohn dabei gehabt hatte. Sie bemerkte auch Spuren, die vom Weg wegführten.

Kit war auf der Hut, saß ab, zog ihr Messer und drang langsam ins Unterholz vor. Dort sah sie, daß Büsche und Zweige zertrampelt waren und daß diese Spur weiter in den dichten Wald führte. Tief gebückt folgte Kitiara dem Trampelpfad. Gleich würde es dunkel werden, doch sie war hellwach, und ihr Atem ging schnell.

Schließlich stieß Kit auf eine zertrampelte Gestalt, die mit dem Gesicht nach unten auf der Erde lag. Sie war der Länge nach ausgestreckt, als wäre sie davongerannt und dann mit solcher Gewalt niedergestreckt worden, daß sie nicht wieder hochgekommen war. Erschrocken blieb Kit stehen, um sich rasch umzusehen, doch sie entdeckte und hörte nichts.

Vorsichtig näherte sie sich. Dann drehte Kit den Körper mit wachsendem Entsetzen herum. Sie hielt die Luft an, als sie den Menschen erkannte, der ihr zum Verwechseln ähnlich sah – den jungen Edelmann mit seinen kurzen, schwarzen Haaren und dem dünnen Schnurrbart. Gwatmeys Sohn, der Mann, den sie verkörpert hatte. Er war tot.

Schlimmer als tot. Seine Vorderseite war in Fetzen gerissen, so daß Teile der Eingeweide heraushingen und an jeder Wunde das Blut geronnen war. Er sah aus, als hätte ein wildes Tier ihn zerrissen und dann – bei diesem Gedanken zuckte Kit zusammen – halb aufgefressen. Nur sein friedliches, schneeweißes Knabengesicht war anscheinend unberührt.

Es war das erste Mal, daß Kit einen Toten aus solcher Nähe sah. Es war das erste Mal, daß sie selbst für einen Tod verantwortlich oder zumindest mitschuldig daran war. Sie fühlte weder Bedauern noch Mitleid, sie war nur schockiert und hatte Angst.

Nachdem Kitiara zurückgetaumelt war, verlor sie völlig die Orientierung. Sie drehte sich um, rannte los, fiel hin, sprang auf, rannte weiter – wohin, wußte sie nicht –, wobei sie mit einem Arm Zweige aus dem Weg stieß, während sie mit dem anderen ihre Augen schützte. Sie konnte ihr Pferd nicht finden. Sie konnte nicht atmen. In der rasch hereinbrechenden Dunkelheit konnte sie nichts mehr sehen. Wieder stolperte Kitiara, aber dieses Mal stand sie nicht wieder auf. Sie lag einfach da und schlief ein.

Kit lag mit dem Gesicht zum Himmel auf der Erde.

Sie träumte von einem jungen, reinen und schönen Gesicht, das nicht zu seinem verstümmelten Körper gehörte, einem Gesicht, das ihrem eigenen auffällig ähnlich sah.

Im Unterholz war ein Knacken zu hören, und Kit spürte, da mußte irgend etwas sein. Noch bevor sie richtig wach war, wußte Kit, sie war nicht länger allein.

Sie versuchte, sich aufzusetzen, doch eine Hand auf ihrer Brust stieß sie zurück, und als sie die Augen aufschlug, sah sie Ursa. Er legte den Finger an die Lippen und flüsterte: »Pst. Sei ganz still.« Er hockte gebückt neben ihr, und seine Blicke schweiften zwischen den Bäumen hin und her.

Es war stockdunkel; Mitternacht war bereits vorüber. Die Luft hatte sich abgekühlt. Kit bemerkte, daß ihr Pferd und das von Ursa in der Nähe festgebunden waren. Zwischen den Bäumen konnte sie nicht sehr weit sehen. Für Kits Ohren hörte sich ihr eigenes schnelles Atmen laut an.

Nach endlosen Sekunden ließ Ursas Griff nach, und Kit konnte sich aufsetzen. Sie versuchte, sich zu sammeln und sich daran zu erinnern, was geschehen war und wie sie hierher gekommen war. Ach ja, ihr fiel alles wieder ein: Der Hinterhalt, das Täuschungsmanöver, der Rückritt, und wie sie dann… den verstümmelten Körper des jungen Edelmanns gefunden hatte.