Kit war abgelenkt, und Ursa trat zu und erwischte sie im Bauch. Als sie zusammenknickte, trat er mit dem anderen Bein noch höher und traf sie am Kinn. Sie fühlte ein Knacken und brach zusammen, wobei sie das Schwert fallen ließ. Ursa versetzte Kit einen weiteren, noch gemeineren Tritt in die Seite, ehe sie das Bewußtsein verlor.
Ursa stand über ihr und wickelte seine Hand eilig in einen Fetzen, den er von seiner Tunika abgerissen hatte. Die verbundene Hand blutete heftig, doch der Schnitt war im Prinzip weder besonders tief noch sehr schmerzhaft. Ursa wußte, daß er heilen würde. Auf seinem Gesicht zeigte sich hauptsächlich Ärger. Seine Augen waren kalt und unnachgiebig.
Er hob Becks Schwert auf und wickelte es etwas mühsam wieder in seine sorgfältige Verpackung. Kitiara regte sich nicht.
Ursa schlurfte zu seinem Pferd und stieg steif in den Sattel. Er wollte Becks Schwert gerade wieder in sein Gepäck zurückstecken, als er wieder zu Kitiara sah und seine Meinung änderte.
»Hier«, sagte er mit belegter Stimme zu niemand bestimmten.
Er warf das Schwert neben ihren zusammengekrümmten Körper auf den Boden. »Hast du dir verdient, Fräulein Kitiara«, fügte er hinzu, während er sein Pferd wendete.
8
Stumpfhausen
Als Kitiara mühsam wach wurde, kam sie sich vor, als hätte man ihr ein Schlafmittel verabreicht. Der klopfende Schmerz, der ihr einen Augenblick später bewußt wurde, weckte in ihr den Wunsch weiterzuschlafen. Dann kehrte die Erinnerung an ihre häßliche Auseinandersetzung mit Ursa zurück.
Der Zorn riß sie so abrupt auf die Beine, als würde sie am Seil hochgezogen. Als sie ihre Kleider abklopfte, bemerkte Kit ein langes, schmales Bündel, das zu ihren Füßen lag. Becks Schwert, registrierte sie. Ursa mußte es zurückgelassen haben. ›Wenig genug für meinen Einsatz‹, dachte sie. Das Gesicht von El-Navar mit seinen Augen wie Diamanten und seinen schwarzen Schlangenhaaren kam ihr wieder in den Sinn. Auch das war geschehen, eine Einweihung, der sie nicht länger neugierig oder zögernd entgegensehen mußte.
Das diesige Morgenlicht enthüllte häßliche Blutergüsse, die sich über Kits Kiefer und Hals erstreckten. Sie betastete sie behutsam. Aber, überlegte sie, die Tochter von Gregor Uth Matar läßt man nicht einfach im Staub liegen.
Kit hob das Schwert auf und band es sich auf den Rücken, bevor sie Cinnamon losmachte und, neben ihrem Pferd herhinkend, Ursas Fährte folgte. Wie sie sich hätte denken können, endete die Verfolgung nach einer schmerzhaften halben Stunde an einem Bach, wo die Spuren aufhörten. Ursa war ein zu erfahrener Kämpfer, als daß ihm kein gekonntes Verschwinden gelungen wäre. Kit wußte, daß sie seine Spur nie wiederfinden würde, und selbst wenn, würde sie unterwegs wieder irgendwo verschwinden.
Als sie so dastand, merkte Kit, wie hungrig sie war. Sie hockte sich ans Wasser und trank mit großen Schlucken. Dann munterte sie Cinnamon mit den Worten auf, daß auf sie am Ende des Tages bestimmt ein warmer, gemütlicher Stall wartete, schwang sich mühsam auf ihr Pferd und brach auf, ohne zu wissen, wohin.
Silberloch lag zehn bis zwanzig Meilen nördlich, doch dorthin wagte sie nicht zu gehen. Die Männer, die sie gejagt hatten, würden dort auf jeden Fall nach ihr suchen.
Aber Kitiara nahm an, daß es unweit von hier im Süden und Westen kleinere Siedlungen geben würde, welche die Straßenbauer versorgten.
Gegen Mittag befand Kit sich in den südlichen Vorbergen, wo sie sich sicher fühlte. Silberloch war einen halben Tagesritt entfernt. Sie befand sich in einer Gegend, wo der Wald spärlicher wurde und das Land scharf zu spitzen Graten anstieg. Weiter westlich wurde das Land karg und unwirtlich. Nicht einmal Söldner würden versuchen, in diese Richtung zu entkommen, dachte sie zuversichtlich.
Kitiara näherte sich ein paar Gebäuden. Kein richtiges Dorf, eher eine hastig errichtete Ansammlung von Zelten, Hütten, Baracken und hin und wieder einem Blockhaus. »Stumpfhausen« stand auf einem Schild. Der Name stammte zweifellos daher, daß die Holzfäller alle Bäume im Umkreis gefällt hatten, so daß nur noch die Stümpfe übrig waren. Ein zusammengewürfelter Haufen Bewohner belebte die matschigen, unbefestigten Straßen. Immerhin gab es mindestens ein Lokal, wo man etwas zu essen und zu trinken bekommen konnte, wie die halb verhungerte Kit sah.
Allerdings gab es da das gewisse Problem, daß sie kein Geld hatte.
Als Kit näher kam, sah sie das Schild »Piggotts Gastliches Haus«. Das Haus war gar nicht so klein, auch wenn das Holz verwittert war und die Farbe schon abblätterte. Wo die Fenster nicht gesprungen oder zugenagelt waren, waren sie schmierig. Der einzige Gast jetzt am Nachmittag – ein alter, graubärtiger Zwerg – stieg wacklig die Holztreppe zum Vordereingang hoch. Er sah aus, als käme er direkt aus einem Faß voll Ruß und Asche.
Nicht zu vergleichen mit dem Wohlbehagen und der Gastlichkeit, die daheim in Solace von Otiks Gasthaus ausging, fand Kit, die kurz vom Heimweh überwältigt wurde. Sie schüttelte den Kopf.
»Anscheinend gewinnen mein zerschundener Körper und mein leerer Magen die Oberhand«, murmelte Kit in sich hinein, als sie abstieg und Cinnamon dorthin führte, wo sie den Eingang zur Küche vermutete.
Nachdem sie ihr Pferd an einen Pfosten gebunden hatte, versteckte Kitiara Becks Schwert unter ein paar Büschen. Dann straffte sie die Schultern und klopfte an die Tür. Sie war fest entschlossen, nicht wie eine Bettlerin aufzutreten. Ein fetter Mann mit breitem, schlaffem Kinn und einer Schürze voller Fettflecken machte auf. Gemächlich musterte er Kit von oben bis unten. Sein eines Ohr war blutverkrustet und geschwollen, zweifellos ein Andenken an eine unfreundliche Auseinandersetzung. Es sah aus wie ein Blumenkohl.
»Na, du siehst aber ziemlich mitgenommen aus, Frollein. Streit mit dem Liebsten, hm? Ich mag’s ja keck, aber nicht unverschämt. Ja, und was kann ich für dich tun?«
Der Mann stand breit in der Tür und seine imposante Gestalt blockierte den Eingang. Kit konnte keinen Blick nach drinnen werfen. Die herausdringenden Essensdüfte waren zwar nicht mit Otiks berühmter Kost zu vergleichen, aber immerhin verlockend genug, um Kit den spontanen Ekel vor diesem Rindvieh herunterschlucken zu lassen, damit sie höflich antworten konnte.
»Ich bin auf der Durchreise und habe unterwegs meinen Geldbeutel verloren. Kann ich mir hier mit irgendwelcher Arbeit eine Mahlzeit verdienen?«
Der Mann nahm eine abschätzigere Haltung Kit gegenüber ein. »Kennst dich in der Küche aus, ja?«
Kit, die sich eher körperliche Arbeit erhofft hatte, sank der Mut, aber der Hunger nagte. »Ja, ich kann abwaschen und zur Not auch kochen.«
Überraschend prompt nahm der Mann Kit am Arm und zog sie durch die Tür. »Das Kochen mach’ ich, Madamchen, aber wenn du servieren und abwaschen kannst, dann leg mal gleich los. Die anderen, die bei mir arbeiten, können jede Hilfe gebrauchen. Uns helfen nicht viele Frauen aus, denn die Frauen hier in der Stadt verschwenden ihre Zeit nicht mit Küchendienst. Die haben sich auf lohnendere Tätigkeiten verlegt, falls du verstehst, was ich meine.«
Er legte Kit vertraulich den Arm um die Schultern und schob sie zu einer Ecke eines langen Tisches mitten in der dreckigsten Küche, die Kit je gesehen hatte. Auf jedem freien Plätzchen stand schmutziges Geschirr, Töpfe und Pfannen. Ein riesiger gußeiserner Kessel mit irgend etwas darin blubberte über dem Feuer, so daß es in die Flammen und auf die Herdsteine spritzte. Verschüttetes Wasser, Fett und Essensreste aller Art glänzten auf den Dielen, unter denen ein flacher Kriechboden lag. Durch die Ritzen zwischen den Dielen konnte das meiste von dem Verschütteten nach unten ablaufen. Und aus dem Geraschel unter ihren Füßen schloß Kit, daß nichts davon liegenblieb.