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Anfangs hatte es Otik nicht recht gefallen, daß ein so junges Mädchen bei ihm herumhing, doch mit der Zeit gewöhnte er sich an Kit – vor allem, weil seine Versuche, sie hinauszuwerfen, nichts fruchteten. Wenn er Kit zur Vordertür hinauskomplimentierte, schlüpfte sie hinten wieder herein. Wenn er beide Türen im Auge behielt, kletterte sie irgendwo durch ein Fenster herein. Wenn sie dann endlich fort war und er sie ganz vergessen hatte, drehte er sich um und sah sie doch wieder an einem Fenster sitzen.

Um die Wahrheit zu sagen, war Kit gar nicht schlecht fürs Geschäft. In der richtigen Stimmung, konnte sie bei den besten Kunden Mäuschen spielen. Geduldig hörte sie den Geschichten von ihren Reisen zu, und jedes Gasthaus braucht gute Zuhörer ebenso wie gute Erzähler.

Außerdem hatte Otik im Grunde ein gutes Herz. Er nahm es Kit nicht krumm, daß sie nicht ständig zu Hause sein wollte, denn er wußte, daß sich dort alles um Rosamunds Krankheit drehte. Wenn keine anderen Gäste da waren, fing Otik mitunter sogar selbst ein Gespräch mit Kitiara an. Er erzählte gerne, woher seine Souvenirs kamen, und nahm hin und wieder auch mal eins von der Wand, damit Kit es vorsichtig anfassen konnte. Gespannt lauschte sie Otiks kleinen Geschichten und eignete sich dadurch Kenntnisse über die Welt an, die sie in der Schule nie erworben hätte. Der Wirt behandelte Kit freundlich, so wie er Jahre später auch Tika Waylan behandeln würde, die verwaiste Tochter eines seiner Schankmädchen.

Otik war klar, daß Kitiara nicht mehr lange in seinem Haus herumsitzen würde. Mit ihren sechzehn Jahren legte sie bereits das Linkische des Heranwachsens ab. Ihr Gesicht hatte klare, eckige Formen angenommen. Es verengte sich von hohen Wangenknochen zu einem entschlossenen Kinn. Die untere Hälfte des Gesichts erschien durch volle, rosige Lippen sanfter. Ihre dunklen Augen waren von glänzenden Wimpern umrahmt, deren Mitternachtsschwarz zu ihrem schwarzen Lockenkopf paßte, den sie weiterhin männlich kurz trug.

Da Kit ihr äußeres Erscheinungsbild egal war, trug sie am liebsten enge Tunikas und Beinkleider, in denen sie sich vernünftig bewegen konnte, scheinbar ohne zu merken, daß diese auch ihre natürliche Anmut verstärkten und die schlanke Figur betonten, die sich allmählich verführerisch rundete. Wenn sie jetzt zusammen mit Aurelie über den Markt oder über die Hängebrücken lief, galten die wohlgefälligen Blicke ebenso oft Kit wie ihrer im langläufigen Sinne hübschen Freundin.

Doch jeder Mann, der mit Kit zu flirten begann, erhielt eine kratzbürstige Abfuhr. Soweit sie das beurteilen konnte, wollten die meisten Männer viel mehr, als sie zurückgaben, und das gefiel Kitiara gar nicht, selbst wenn es sich auf ihre Brüder bezog. Die allerdings waren – den Monden sei Dank – mit ihren acht Jahren bereits ganz gut dazu imstande, für sich selbst zu sorgen. Raistlins Zauberausbildung machte gute Fortschritte und nahm den Großteil seiner Zeit in Anspruch. Wenn Caramon nicht die Schule schwänzte, um mit seinem Schwert zu üben, lief er Gilon hinterher.

Als hätte sie ihn mit ihren Gedanken herbeigehext, blickte Kitiara aus der Vordertür, die Otik an diesem warmen Nachmittag weit geöffnet hatte, und sah ihren Bruder gutgelaunt mit einer Horde Jungen auf den Wegen vor dem Wirtshaus herumrennen. Er und ein anderer Junge begannen einen Scheinkampf mit zwei langen Stöcken. Caramon war offensichtlich stärker und gewandter mit dem Stock, doch er ließ sich lachend von seinem Freund besiegen und warf die Hände hoch, um sich zu ergeben. Kit runzelte die Stirn. Der Junge hatte das zu weiche Herz von Gilon geerbt.

Einen Augenblick später tauchte Caramon im Eingang zum Wirtshaus auf.

»He, Kit, krieg’ ich ein Glas Birnensaft oder eine Portion von Otiks feinen Kartoffeln?« fragte er mit einem Grinsen, dem selbst Kit in ihrer augenblicklichen miesen Laune kaum widerstehen konnte.

Doch wie üblich, wenn er versuchte, das Gasthaus zu betreten, sprang Kitiara auf Caramon zu und warf ihn hinaus, bevor Otik überhaupt reagieren konnte.

»Noch mehr Kartoffeln, und du bist so voll, daß du dein Schwert gar nicht mehr hochkriegst. Jetzt aber los, sonst kommst du noch zu spät und verpaßt Raistlin auf seinem Heimweg von Teichgrund.«

Während sie Caramon von der Tür fortscheuchte, sah Kitiara zwei Fremde die Stufen zu Otiks Eingangstür hinaufsteigen. Das war an sich nicht bemerkenswert, doch diese beiden Fremden waren ein so ungleiches Paar, wie Kit es noch nie gesehen hatte. Sie kehrte an ihren Platz zurück und erwartete ihr Eintreten.

Wenige Augenblicke später standen sie in der Tür und sahen sich im Raum um. Einer von ihnen war ein wahrer Riese. Seine Haare hatte er zu einem Dutzend Zöpfe geflochten, die ihm bis auf die Schultern hingen; sein Kopf war gewaltig, doch die winzigen Äuglein lagen tief in fleischigen Augenhöhlen. Sechseinhalb Fuß groß und dreihundert Pfund schwer, schätzte Kitiara. Er trug ein zeltartiges, buntes Gewand, doch ihr Blick ging sofort zu seinen Waffen – ein Krummsäbel, ein Messer und eine kurze, stachelbesetzte Keule –, die alle deutlich sichtbar an dem Gürtel um seinen beträchtlichen Wanst hingen. Auf dem Rücken schleppte er eine große Holzkiste, die er jetzt schwungvoll auf dem Boden absetzte und zur Seite stieß. Er sagte nichts, doch sein Blick wanderte rasch durch den Raum, wobei seine Augen bei Kit kurz, aber ohne Interesse aufleuchteten.

Begleitet wurde er von einem Mann, der noch auffälliger war, denn Kit hätte ihn auf den ersten Blick fast für eine Frau gehalten. Er war groß – allerdings nicht so groß wie der Riese – und schlank, hatte eine Haut wie Alabaster, tiefschwarze Haare und himmelblaue Augen. Er trug eine meerblaue Tunika mit einem schön verzierten Gürtel, der seine schmale Taille umschloß, in dem aber keine Waffen steckten. Das Lederpaket, das er schleppte, warf er müde auf die Kiste. Der ist nicht viel älter als ich, dachte Kitiara, vielleicht zwanzig. Als er zur Theke ging, fiel ihr auf, daß er einen ungewöhnlichen Anhänger mit einem blitzend grünen Stein am Hals hängen hatte. Gleichzeitig mit diesem ungewöhnlichen Schmuckstück fiel Kit zu ihrem Erstaunen ein Duft auf. Er benutzte anscheinend Parfüm oder Öle.

Der Mann hatte eine ausgesprochen würdevolle Haltung, und ihr wurde klar, daß er aus einer hochgestellten Familie stammen mußte. Darüber hinaus strahlte er so viel Vornehmheit und Bildung aus, daß er sich völlig von all den rauhen Kerlen und gewöhnlichen Leuten abhob, die sie gewohnt war. So einen Mann hatte Kit noch nie gesehen. Vor ihrem Gesicht verschwand jedes Restchen schlechter Laune. Ihre Augen waren hellwach und ihr Ausdruck wie gebannt.

»Gibt es noch etwas zu essen?« fragte der Mann, als Otik geschäftig aus der Küche eilte, um sie zu begrüßen.

»Ein spätes Mittag- oder ein frühes Abendessen«, strahlte Otik. »Mir ist es gleich. Setzt Euch, ich werde Euch gern bewirten.«

Da er weit herumgekommen war, war der Wirt vom Äußeren seiner neuen Gäste nicht so überwältigt wie Kitiara. Er schätzte den jungen Mann sehr zutreffend als Edelmann aus Nordergod ein, der von seinem Sklaven begleitet wurde.

»Ich bin Patrick von Gwynned, und das ist mein Diener Stratke«, stellte der Mann sich vor. »Mir wurde überall geraten, ich sollte auf jeden Fall Eure Würzkartoffeln probieren.«

Seine Stimme klang bestimmt, als wäre er es gewohnt, daß man ihm gehorchte. Kit wurde noch neugieriger.

Patricks Bemerkung über seine gewürzten Bratkartoffeln zauberte ein Lächeln auf Otiks Gesicht. »Und Bier dazu?« fragte Otik. »Bier paßt gut – «

»Klares Wasser, bitte«, schnitt Patrick ihm das Wort ab. »Danach vielleicht ein Glas Wein. Ihr habt doch Wein, oder?«

Patrick sagte diesen letzten Satz, derweil er sich in der Gaststube umsah und das Schild über der Theke las, auf dem geschrieben stand: »Gesunde und herzhafte Kost für Freunde und Fremde.«