Nachdem sie morgens die Küste erreicht hatten, machten sie in dem verschlafenen Städtchen Conover halt, dessen Hafen voller Schiffe aller Art lag. Kit und Colo kletterten bei einem Dutzend Schiffe über das Fallreep und versuchten, eine Überfahrt für sich und ihre Pferde zu buchen. Dabei gaben sie acht, daß sie keine Aufmerksamkeit erregten. Doch während der kalten Jahreszeit gab es wenig Seeverkehr, so daß die meisten Schiffe vorerst festlagen. Und kein Kapitän wollte sie für das bißchen Geld übersetzen, das sie erübrigen konnten.
Am Ende eines enttäuschenden Tages im Hafen entdeckte Kit ein breites Frachtschiff, das abseits der Mole im Hafen ankerte. Sie ruderten hinaus, um mit dem Kapitän zu reden, einem kräftigen Seemann, der eine Ladung Pelze und Wolle an Bord hatte. Er willigte ein, sie mitzunehmen, aber nur unter der Bedingung, daß sie als Schiffsjungen einsprangen. Ihm fehlte ein Seemann, und er hoffte, daß zwei Frauen einen Mann ersetzen konnten.
Colo wäre ihm am liebsten an die Kehle gesprungen, doch Kit kam ihr zuvor. »Abgemacht«, stimmte sie zu und schüttelte ihm zur Bekräftigung die Hand.
Sein Schiff, die Fleury, lief früh am anderen Morgen aus. Die Woche an Bord des Segelschiffs war für Kit und Colo eine Qual – nicht wegen der harten Arbeit, die ihnen zumindest die Zeit nicht lang werden ließ, sondern wegen der Langsamkeit. Wenn sie nicht mit ihren Pflichten beschäftigt waren, liefen sie rastlos an Deck auf und ab, redeten wenig und fanden nur schwer in den Schlaf.
Als die Fleury endlich die Küste erreichte, ließ die Besatzung sie und ihre Pferde ins Wasser hinunter. Anstatt zu warten, bis sie eine nach der anderen mit dem Beiboot übergesetzt würden, schwammen sie lieber an Land.
Sie waren am äußersten Rand von Abanasinia und wußten von der Karte, daß sie zunächst nach Nordwesten reiten mußten, um die Ausläufer des Kharolisgebirges herum, bevor sie nach Süden auf die Gipfel des Ostwall-Gebirges zuhalten konnten.
Sechs Tage und sechs Nächte waren Kit und Colo unterwegs. Sie schliefen nur ein bis zwei Stunden pro Nacht und schwangen sich dann schon vor der Dämmerung wieder in den Sattel. Weil sie nur hin und wieder haltmachten, um starken Tee herunterzukippen und etwas Trockenobst in sich hinein zu schlingen, kamen sie gut vorwärts. Unbarmherzig trieben sie die Pferde voran. Colo bestimmte das Tempo, denn sie war eine geborene Reiterin und hatte vielleicht auch von Anfang an das stärkere Tier, doch Kitiara war nie weit hinter ihr.
Am dritten Nachmittag brach Kits Pferd in vollem Galopp zusammen, und bis Kit sich aufgerappelt hatte, lag das Tier schon in den letzten Zügen. Ein paar Meilen mußten sie zu zweit reiten, bis sie von einem Bauern ein neues Pferd kaufen konnten.
Am vierten Morgen kam Colos Pferd nicht mehr auf die Beine, und sie mußten ihm den Gnadenstoß versetzen. Wieder ritten sie ein paar Stunden zusammen, bis sie in einer Schmiede an der Straße ein zweites Pferd erwerben konnten.
Während sie so vorankamen, wurde der Himmel grau, und zur Kälte gesellten sich Nieselregen und Nebel. Morgens lag Reif auf den Gräsern und später, als sie von der Küste in die höheren Regionen gelangten, auch ein dünner Schneeteppich. Zeitweise lag der Schnee über Eis, was für die Pferde gefährlich war.
Das Wetter schien es darauf anzulegen, sie aufzuhalten. Wenn es nicht schneite oder regnete, war es neblig. Die Feuchtigkeit kroch ihnen in die Glieder. So waren sie nicht nur erschöpft und wund vom Reiten, ja, fast taub vor Anstrengung, sondern konnten auch der ständigen Kälte nicht ein einziges Mal durch ein bißchen Sonnenschein entkommen.
Kit war noch nie so weit im Norden gewesen und hatte diesen Teil des Kharolis noch nicht gesehen. Ehrfürchtig betrachtete sie die Gipfel, die sich über viele Meilen bis zum Horizont erstreckten – große, zerklüftete Bänder in Braun und Violett, mit Schnee bedeckt.
Am sechsten Tag kam ihnen die Landschaft wieder vertrauter vor, denn sie erreichten die Nordwesthänge des Ostwall-Gebirges. Mit Hilfe der Elfenkarte folgten sie hier einem verschlungenen Weg, der über Trampelpfade, durch Schluchten und kleine Täler zum Lehen Mantillatal führte.
Der Weg war ziemlich tückisch, denn er wand sich durch felsiges Gelände, um große, zackige Gipfel und steile Klammen, über angelegte Fußwege und kaum passierbare Stellen, wobei er teilweise scharf abbog und im Kreis zurückkam. Die Pferde mußten sich immer wieder langsam einen Weg suchen. Hin und wieder wurden Kit und Colo auch gezwungen, abzusitzen und neben ihren nervösen Tieren herzulaufen. Immerhin stimmte die Karte, und sie kamen vorwärts.
Trotzdem forderte das schwierige steinige Gelände seinen Tribut von einem ihrer Pferde, das sich beim Stolpern ein Vorderbein verletzte. Sie hatten keine Wahl; sie mußten das leidende Tier erlösen und sich wieder ein Pferd teilen. Kit und Colo waren ihrem Ziel jetzt so nah, daß sie die letzten Meilen nach Mantillatal auch zu Fuß zurücklegen konnten.
Am Nachmittag des siebten Tages stießen sie auf einen verschneiten Hang mit einem schmalen Wasserfall. Der Hang lag über einem tiefen, unregelmäßigen Tal, das von hier ab durch dicken gelben Nebel verhüllt war. Auf der Karte war ein schmaler Pfad eingezeichnet, der den sanft abfallenden Hang hinunterführte.
Kit war noch nie so ausgepumpt gewesen. Jeder Knochen im Leib tat ihr weh, ihre Augen waren blutunterlaufen, die Kleider schmutzig und zerrissen. Colo, die neben ihr stand und das Mantillatal betrachtete, sah auch nicht besser aus. Im Gegenteil – als sie da standen, ohne einen Schritt auf ihr Ziel zuzumachen, sank Colo in die Knie.
Ihnen wurde klar, sie brauchten Schlaf, damit sie wieder etwas zu Kräften kamen, und deshalb beschlossen Kit und Colo, diese Nacht hier oben zu verbringen. Da es noch nicht dunkel war, hatten sie reichlich Zeit, um ihr Pferd zu versorgen und ein Lager aufzubauen. Sie ölten und trockneten ihre Waffen. Mit geschmolzenem Schnee gelang es ihnen, sich notdürftig zu waschen, was sie ein wenig erfrischte.
Colo zündete hinter ein paar Felsen ein kleines Feuer an, dessen Schein nicht einmal vom Tal aus zu sehen sein würde. Bei Einbruch der Nacht konnten sie unten im Tal nichts erkennen und auch am Himmel nichts, was noch seltsamer war. Es war eine Nacht ohne Mond und Sterne. Nur leere Dunkelheit.
Zuerst sprachen die zwei Gefährtinnen wenig miteinander. Sie waren müde, aber sie spürten, daß ihnen etwas bevorstand, das sie durchaus das Leben kosten konnte. Aus dem Essen, das sie unterwegs erbettelt hatten, bereitete Kit eine Mahlzeit zu, doch obwohl sie so hungrig waren, konnten sie vor Erschöpfung kaum etwas zu sich nehmen.
Nach einer langen Pause begann Colo zu sprechen. Sie erzählte Kit, wie sie Ursa kennengelernt hatte, was erst neun Monate her war. Er war in Südergod allein mit Schlaukopf unterwegs und gerade sehr heruntergekommen gewesen. Colo zufolge hatte Ursa schäbige Kleidung getragen und hätte jeden Auftrag angenommen.
In dem Gasthaus an der Hauptstraße, wo Colo die Nacht verbrachte, hatte man sie beschuldigt, beim Kartenspielen zu mogeln – was sie auch getan hatte. Ursa, der selbst mitspielte, sagte sehr wenig und spielte sehr gut, obwohl er dauernd verlor, am meisten an Colo. Trotzdem ergriff er bei dem Streit für sie Partei, und als so ein Bauerntrampel Colo mit dem Messer bedrohte, stellte sich Ursa trotz der Gefahr für sich selbst auf ihre Seite. Zusammen mit Trauerkloß verließen die beiden rückwärts das Wirtshaus und dann, von der Meute verfolgt, die Stadt.
Nachdem sie in Sicherheit waren, erklärte Ursa Colo, er habe die ganze Zeit gewußt, daß sie betrog, und forderte die Hälfte ihres Gewinns. Seitdem waren sie zusammen gereist.
»Ich wußte gar nicht, daß er gerne Karten spielt«, sann Kit. Was sie eigentlich meinte, war ihre Verwunderung darüber, daß Ursa sich dazu herablassen würde, um zu etwas Geld zu kommen.
»Ich glaube, er kann von allem ein bißchen«, sagte Colo bewundernd.