Das fauchende Monster unten stieß ein neuerliches Brüllen aus.
»Halt dich einfach fest. Ich ziehe dich hoch!« rief Colo ihr gepreßt zu.
Das Seil schnitt Kit so tief in die Hand, daß Blut ihr Handgelenk herunter tröpfelte. Es fiel ihr schwer, gleichzeitig das Seil und Becks Schwert festzuhalten. Colos Stärke war für jemanden von ihrer Größe bemerkenswert, aber dennoch brauchte sie lange Minuten, in denen sie Kit voller Anstrengung Handbreit um Handbreit über den steilen Rand zog.
Nachdem Kit herausgekrochen war, rieb sie sich mürrisch das Handgelenk. Colo hatte sich vor Erschöpfung lang ausgestreckt. Sie hörten das Brüllen und Toben des Wassermonsters in der Tiefe. Zweifelsohne war das Tier enttäuscht, weil Kit ihm entkommen war.
»Eindeutig kein Slig«, bemerkte Kit schließlich.
»Ja«, sagte Colo und setzte sich auf. Einen Moment später fügte sie trocken hinzu: »Jetzt sind wir eigentlich quitt.«
Langsam standen sie auf und machten sich auf den Rückweg. Sie konnten schneller gehen, aber dennoch dauerte es einige Zeit, bis sie wieder in der Totenkammer waren. Jetzt mußten noch zwei Tunnels erforscht werden.
Kit schätzte, daß die Mittagszeit schon vorüber war, und sie waren hungrig. In Gegenwart der Opfer von Luz Mantillas Rachedurst teilten sie ihre bescheidenen Vorräte. Inzwischen hatten sie sich schon fast an die groteske Umgebung gewöhnt.
Colo, die sich auf ein paar Trümmern ausgestreckt hatte, sagte nachdenklich: »Also, ich schätze, wenn wir für die beiden übrigen Tunnels jedesmal so lange brauchen wie für den ersten, dann sind wir noch den ganzen Tag und bis tief in die Nacht hier unten. Und selbst dann haben wir vielleicht noch nicht das gefunden, wonach wir suchen.«
»Ich dachte gerade dasselbe«, erwiderte Kit vorsichtig.
»Ich will nicht zwei Tage an diesem gräßlichen Ort verbringen«, sagte Colo, die sich mißtrauisch umsah.
»Ich auch nicht«, gestand Kitiara.
»Wir sollten uns aufteilen. Jede nimmt einen Tunnel. Wenn nichts dabei herauskommt, treffen wir uns hier wieder.«
»Abgemacht.«
»Laß dir Zeit«, mahnte Colo. »Paß auf. Sei auf der Hut vor Fallen und… vor der Eisernen Garde.«
»Keine Sorge«, sagte Kit mit ihrem schiefen Lächeln. »Ich mach’ doch nicht zweimal denselben Fehler.«
Stehend faßten sie einander an den Schultern. Kit wurde bewußt, wie gern sie inzwischen mit der Waldläuferin zusammen war. Aus Colos Augen sprach das gleiche Gefühl.
Colo drehte sich als erste um, ging zum äußersten Tunnel und verschwand darin. Kit wartete ein paar Minuten, hörte jedoch nichts als die leiser werdenden Schritte ihrer Kameradin. Also machte Kit sich zögernd in den letzten Tunnel auf.
Nach ungefähr zehn Minuten wurde Colos Tunnel vor lauter Geröll praktisch unpassierbar. Nicht nur Steine und Holz, sondern Trümmer und Chaos. Die Waldläuferin fragte sich, ob dieser Steintunnel vielleicht nicht mehr benutzt wurde, und ob sie nicht lieber umkehren und Kitiara nachgehen sollte.
Der Tunnel war mit allen möglichen Dingen übersät. Verrostete Rüstungsteile, stinkende Kleiderfetzen, schmutzige Lumpen, Tonscherben, alte Gartengeräte. Spinnweben und Moos hingen von der Decke herunter und verfingen sich in ihrem Haar. Handtellergroße Spinnen und Käfer hingen über ihrem Kopf. Sie konnte hören, wie Ratten und andere kleine Tiere in ihre Verstecke huschten, als sie vorbeikam.
»Bei den Göttern«, murmelte sie, während sie mit dem Schwert die Spinnweben zerschlug, »ich habe bestimmt die schlechtere Wahl getroffen.«
Nachdem sie fast eine Stunde lang vorgedrungen war, kam Colo nicht mehr weiter. Ein Haufen Steine, Holz und Trümmer versperrte ihr wie eine Wand den Weg. Er reichte bis zur Decke. Sie wollte gerade umkehren, als sie bemerkte, daß von der anderen Seite ein dünner Lichtstrahl hereinfiel. Als sie in die Knie ging und durch das winzige Loch spähte, konnte sie erkennen, daß der Tunnel auf der anderen Seite des Haufens besser begehbar war.
Seufzend nahm sie ihr Schwert und stocherte in dem Loch herum, um einen größeren Zugang zu schaffen. Als es groß genug aussah, um hindurchzukriechen, schob Colo zuerst den Kopf hinein. Sie stellte fest, daß sie sich mit etwas Anstrengung hindurchwinden konnte. Nachdem sie ein paar Minuten auf dem Bauch weitergekrochen war, war sie über und über mit Schlamm und Dreck bedeckt.
Wenn sie ihr Messer vor sich hielt, konnte sie sich einen Weg bahnen. Sie schob sich jedesmal ein paar Fuß weiter, bis sie auf einen besonders dicken Stein stieß, dessen kantiges, nach unten schräges Ende jedes weitere Vorwärtskommen unmöglich machte. Nach einer Weile gelang es ihr, ihn zu lockern, doch als er herauskam, hörte sie, wie die schwere Erde über ihr knirschte.
Colo kroch so schnell vorwärts, wie es ihr in dem engen Gangstück nur möglich war. Doch dann kam ein Zittern, und genau bevor sie sich auf der anderen Seite hinausretten konnte, brach der Trümmerhaufen zusammen und erwischte ihren linken Knöchel.
»Verdammt«, kreischte Colo. Sie versuchte, ihren Kopf so zu drehen, daß sie einen Blick auf ihren Fuß werfen konnte. Die Schmerzen waren zum Davonrennen.
Es gelang ihr, sich um ihre Achse zu drehen. Auf der Seite liegend, konnte sie mit dem Schwert um ihren Fuß herum stochern. Nach einigen Verrenkungen gelang es ihr, den Fuß aus den Trümmern zu befreien. Sie hatte ihn gerade losgerissen und war weitergekrochen, als der ganze Haufen zu beben und zu ächzen begann.
Colo rollte sich schnell zur Seite, als er herunterdonnerte.
Staub und Lärm legten sich. Nachdem Colo in sicherer Entfernung saß, wo sie ihren blutigen, gequetschten Knöchel rieb, schaute sie zurück und stellte fest, daß der ganze Haufen auseinandergerutscht war; jetzt konnte man ihn leicht überqueren.
Vor ihr lag ein weiteres Stück Tunnel, das verhältnismäßig sauber war und, von Fackeln erhellt, einen scharfen Rechtsknick machte. Ihr Knöchel tat sehr weh, aber er war nur verstaucht, nicht gebrochen, und Colo konnte ihn immer noch etwas belasten.
Sie riß ein Stück Stoff von ihrem Ärmel ab und wickelte es um ihren Fuß. Dann humpelte sie weiter, wobei sie sich an der Wand abstützte und den verletzten Fuß nachzog.
Während Colo dem Knick folgte, wurde ihr klar, daß sie in einer Art Verlies gelandet war. Von dem mit Öllampen beleuchteten Gang gingen nach beiden Seiten eine Reihe Zellen ab. Diese waren größtenteils leer – ein paar Knochen hier, quietschende Ratten dort. Beim Weitergehen zählte sie mindestens hundert von diesen steinernen Kerkern, jeder so groß wie eine Pferdebox. Sie hielt sich an den Gitterstäben fest, damit sie das Gleichgewicht besser halten konnte.
Weiter vorne machte der Tunnel wieder eine Biegung nach rechts, und dahinter hörte sie ein Geräusch. Sie befürchtete ein weiteres Wesen wie das in der Fallgrube, darum suchte sie als erstes den Boden ab und vergewisserte sich, daß sie nicht in eine weitere Falle stürzte. Aber dieses Geräusch war anders, ein Tappen und Schlurfen, gefolgt von Räuspern.
Menschliche Atemzüge!
Sie hinkte weiter, umklammerte ihr Schwert und spähte um die Ecke. Was sie ein kurzes Stück weiter sah, war eine schmale Treppe, die rechts nach oben führte, und eine größere Zelle als die anderen, die ganz am Ende des Gangs lag. In dieser Zelle lief Ursa Il Kinth auf und ab; er war nur mit einer ramponierten Hose bekleidet.
»Colo!« rief er aus und packte die Gitterstäbe, als er sie sah.
»Ursa!« So gut sie konnte, lief sie hin, wobei sie den verletzten Fuß hüpfend hinter sich herzog.
Beim Näherkommen erkannte sie, daß Ursa verprügelt, dünn und geschwächt aussah. Sein Gesicht war grün und blau geschlagen, die nackten Füße geschwollen und violett angelaufen. Er starrte sie genauso an, bemerkte sie, als sie ihm mitleidig betrachtete, denn sein Blick hing an ihrem verletzten Fuß, dessen einfacher Verband vom Blut schon dunkelrot war.
Sie schlugen im selben Moment die Augen auf, und Ursa brach unwillkürlich in bellendes Lachen aus, so ähnlich war ihr Ausdruck von Mitleid füreinander.