»Komm rein, sage ich«, sagte die Stimme. »Die Zeit ist kurz. Deine Zeit ist jedenfalls ganz sicher kurz. Du wirst noch früh genug tot sein.«
Ihr langes weißes Haar fiel ihr in zotteligen, wirren Strähnen offen über die Schultern fast bis zum Boden. Sie hatte rote Augen und totenbleiche, bläuliche Haut, bis auf die leuchtendroten Wangen. Luz Mantilla konnte nicht viel älter sein als Kitiara, doch sie machte den Eindruck einer alten Wasserhexe.
Die Herrin – denn unter diesem Namen kannten sie ihre Diener – war in ein weißes Spitzengewand gekleidet, das verschlissen war und dessen einer Ärmel gänzlich fehlte. Es war ihr Hochzeitskleid, erkannte Kit, oder wäre es gewesen. Luz Mantilla umklammerte die Armlehnen ihres Stuhls, als sie sich nach vorne neigte, um Kitiara ins Auge zu fassen.
Kit war am Rand des Saals geblieben und hatte angefangen, den Raum zu umkreisen, um ihre Verteidigungsmöglichkeiten zu prüfen. Einst war es wohl ein prächtiges Zimmer gewesen. Jetzt war es abstoßend, voller Schmutz und Exkremente.
Schwarzer Samt bedeckte Wände und Möbel, was zu der düsteren Atmosphäre beitrug. In einer Ecke stand ein säuberlich gemachtes Himmelbett, das jedoch staubig und von Spinnweben überzogen war. Wahrscheinlich hatte noch nie jemand darin geschlafen. Ein Blick nach oben verriet Kit, daß die Holzdecke mit den Schindeln in fortgeschrittenem Fäulniszustand war.
An den Wänden hingen goldgerahmte Gemälde und ehemals herrliche Wandbehänge in verblichenem Orange und Purpurrot. Als Kitiara eines dieser Werke betrachtete, auf dem ein Mädchen mit Mondgesicht zu Füßen eines stolzen Edelmanns saß, merkte sie, daß es Lady Mantilla als unschuldiges Mädchen darstellte, ehe sie durch die Zeit, die Tragödie und wahrscheinlich Schwarze Magie gezeichnet worden war.
»Ja«, sagte die Stimme, die aus dem Mund der verfallenen Frau flatterte, »das war ich. Damals.« Mit einer Handbewegung zeigte sie auf das Gemälde, das Kit angestarrt hatte. »Und mein Vater«, plötzlich triefte die Stimme vor Verachtung, »natürlich, bevor ich ihn getötet habe. Er war mein erstes Opfer. Er hat hinter der ganzen üblen Sache gesteckt, wie du weißt. Er dachte, er wüßte, was für mich das beste wäre. Ich habe mich um meines Geliebten willen an ihm gerächt.«
Sie lehnte sich zurück und betrachtete Kit.
Kit blieb stehen und machte einen Schritt auf die Frau zu, um sie besser ansehen zu können, während sie sich gleichzeitig dem dicken Magier näherte, der sie mit steinernen, haßerfüllten Augen anzustarren schien.
»Bevor er starb«, fuhr Lady Mantilla gelangweilt fort, »war mein Vater noch so gut, mir zu sagen, daß Radissons Bruder den, hm, Zwischenfall inszeniert hat, der mit dem Tod meines « – hier zitterte ihre Stimme – »Liebsten endete. Der starb dann etwas schnell. Ich hätte es vorgezogen, ihn länger leiden zu lassen. Damals war ich natürlich noch Neuling auf diesem Gebiet.«
Sie legte den Kopf zurück und stieß ein langes, trillerndes Lachen aus, das auf einem königlichen Maskenball nicht fehl am Platze gewesen wäre, nur daß es einen irren Beiklang hatte.
Kit fragte sich, was sie machen sollte. Sie konnte gegen die vier aus der Eisernen Garde und dazu noch den Zauberer und die Wahnsinnige kaum etwas ausrichten, doch es war zu spät, um umzukehren und Colo zu holen. Und merkwürdigerweise hatte noch keiner einen Schritt in ihre Richtung gemacht. Unauffällig – so hoffte sie jedenfalls – schob sie sich auf den Magier zu, der in Mantel und Kapuze unergründlich dasaß.
»Es war einfach, Radisson mit seinem Bruder in Verbindung zu bringen, aber es dauerte etwas länger, als ich gehofft hatte, Radisson selbst aufzuspüren. Dann hatte ich Glück. Er war mit dem Panthermann zusammen. El-Navar, so heißt er doch?«
Kit beherrschte ihre Stimme. »Warum hast du El-Navar nicht wie Radisson getötet?«
Die Herrin runzelte die Stirn. »Das hat mich ziemlich aufgeregt. Dieser komische Mann konnte sich in einen Panther verwandeln, und damit hatte ich nicht gerechnet. In dieser Gestalt steht er anscheinend unter einem besonderen Schutz, und ich kann mich nicht mit ihm verständigen. Oder ihn töten. Glaub mir, ich hab’s versucht. Und wie! Ich halte das Ungeheuer unter der Erde im Käfig und weiß immer noch nicht, was ich mit ihm anstellen soll.«
Kit war nah genug an den Magier herangekommen, um handlungsfähig zu sein. Schwungvoll holte sie mit dem Schwert aus und zog es blitzschnell herunter. Sie hackte dem Mann die rechte Hand ab, die auf den Boden fiel. Doch es floß kein Blut aus dem Arm, und unerklärlicherweise zuckte der Zauberer noch nicht einmal zusammen.
Lady Mantilla kreischte vor Lachen. »Ach, du meine Güte«, gackerte sie, »du hast vor diesem blöden Zauberer Angst gehabt. Das war Nummer dreiundsiebzig, der letzte von denen, die mir helfen sollten. Ich habe ihn schon vor Tagen umgebracht, wie ich sie alle wegen ihres Versagens und ihrer Tricks getötet habe. Ich habe ihre Tricks bald raus, und dann langweilt mich ihr Getue.«
Kit blieb wachsam, während sie sich fragte, ob sie wohl genauso dämlich und verwirrt aussah, wie sie sich vorkam.
Die Stimme der Lady nahm einen tieferen, fast männlichen Tonfall an. Trotz der unheilverkündenden Stimmlage lag darin auch ein Hauch Beklemmung. »Du weißt nicht, wie das ist«, sagte Luz Mantilla zu Kit, »wenn du jemanden verlierst, den du liebst. Wenn du dir dein Leben an seiner Seite erträumt hast und diesen Traum verlierst. Wenn du allein zurückbleibst. Ganz allein. Allein!« Sie ließ sich gehen und schluchzte, die Hände vor dem Gesicht.
Kit musterte die Eiserne Garde hinter der Lady. Sie konnte weder die Augen sehen noch irgendeinen anderen Hinweis erkennen, ob sie Menschen waren. Durch die schmalen Schlitze schienen sie sie kalt zu betrachten. Waren sie auch tot wie der Zauberer, oder waren es nur leere Metallhüllen?
Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, fuhr Lady Mantillas Kopf hoch. Mit magerem Finger schrieb sie ein Muster in die Luft. Die vier Wachen begannen, sich so geschickt und behende zu bewegen, daß Kit verblüfft war. Das einzige Geräusch, das sie verursachten, war das Klirren ihrer Waffen. Sie kamen nicht auf sie zu, sondern schritten wie in einem Tanz zu den Wänden, wo sie an vier gleich weit voneinander entfernten Punkten um den Raum herum Stellung bezogen. Kit stellte zu ihrem Unbehagen fest, daß sie im Zentrum dieser Anordnung stand.
Indem sie ihr Messer und ihr Schwert kampfbereit vor sich hielt, bemühte Kit sich nach Kräften, möglichst bedrohlich zu erscheinen.
Lady Mantillas Gesicht strahlte. Ihr Lächeln entblößte ihre fauligen gelben Zähne. »Meine Eiserne Garde macht dir angst«, sagte sie fast augenzwinkernd. »Die sind lebendiger als mein Zauberer. Gut, nur halblebendig oder eher halbtot, aber so gefallen sie mir besser. Es sind nur noch vier übrig, zu schade. Ich glaube, mit den übrigen war ich ein bißchen voreilig. Aber das wichtigste ist« – sie schnalzte mit der Zunge und legte einen Finger an den Kopf – »das wichtigste ist, daß sie so geschaffen sind, daß sie alles für mich tun würden, selbst sterben. Darin sind sie unübertroffen treu, im Sterben, meine ich. Soll ich es vorführen? Zierold!«
Einer der Männer trat mit quietschender Rüstung einen Schritt vor. Kit war auf einen Zweikampf gefaßt, doch Lady Mantilla zirpte: »Spring doch bitte für mich aus dem Fenster, ja, Zierold?«
Der schwer bewaffnete Zierold marschierte zu einem der samtverhangenen Fenster. Tänzerisch leicht schwang er sich auf den Sims, drehte sich um, um vor der Lady zu salutieren, und warf sich dann ohne Zögern hinaus. Es gab eine lange Stille, dann einen dumpfen Aufprall. Lady Mantilla quietschte regelrecht vor Vergnügen.
Gut, dachte Kit, einer weniger. Sie stellte sich etwas anders hin und hatte keine der verbliebenen Wachen genau im Rücken.
»Ja«, fuhr die Lady fort, »es war leicht, Radisson und El-Navar zu ergreifen, aber etwas schwieriger, diesen schlauen Ursa zu finden. Anscheinend tauchte er immer wieder unter. Er trennte sich eine Zeitlang von Schlaukopf. Wir folgten Schlaukopf, doch auch dem gelang es, uns abzuschütteln. Sie verkleideten sich, schliefen im Freien, reisten Hunderte von Meilen außerhalb meiner Reichweite.