El-Navar hatte eine deutliche Spur hinterlassen. Einen Augenblick lang zog Kitiara in Betracht, ihm zu folgen, doch die Spuren führten nach Süden. Mühevoll kletterte sie auf ihr Pferd und war sich kaum dessen bewußt, daß sie das Tier nach Norden trieb. Der Norden war ihr Ziel; dort wollte sie etwas über ihren Vater herausfinden.
Epilog
Kein Mensch in Whitsett konnte Kit sicher sagen, was aus Gregor geworden war.
Die Reise dorthin dauerte neun Wochen – durch das Ostwall-Gebirge an die Neue See, ein Zwischenstop auf der Insel von Schallmeer, dann weiter ins Zentrum von Solamnia, in das Land Trot.
Über menschenleere Berge und unwirtliche Gewässer, über eisige Sümpfe und verschneite Steppen, durch unheimliche windgepeitschte Wälder und über eisverkrustete Prärie.
Mitten im Winter kam sie an. Sie kam allein.
Kitiara stellte fest, daß Whitsett sich sehr verändert hatte. Whitsett war der Name einer Gemeinde, die nicht viel größer war als das Dorf, das der Slig in Angst und Schrecken versetzt hatte. Der Name bezog sich aber auch auf den losen Bund von Häusern und Höfen im umliegenden Tiefland, das von den Nebenarmen eines wilden Stroms durchzogen war. Diese beiden Lehen, die vor fast vier Jahren im Mittelpunkt der Fehde gestanden hatten, waren ausgeblutet. Jetzt waren sie in den größeren Bund eingegangen, der ehrenhaft von einem hohen Beamten geleitet wurde, auf den sich alle Familien geeinigt hatten. Dieser entschied in Handels- und Rechtsfragen.
Die beiden ansässigen Lords, die den Krieg zwischen ihren Gefolgsleuten angezettelt und vorangetrieben hatten, waren in der Zwischenzeit gestorben. Einer eines natürlichen Todes, der andere gewaltsam. Ihre Offiziere hatten sich verstreut. Nachdem die Anführer tot waren, sah keine Seite einen Grund, alte Feindschaften fortzusetzen, und der ausgehandelte Frieden dauerte an.
Der Gefängniswärter aus jenen Jahren war wegen Bestechlichkeit gehängt worden. Das Gefängnis war abgebrannt, und man hatte ein neues gebaut. Der zuständige Beamte hatte inzwischen schon dreimal gewechselt. Kein Verantwortlicher konnte jemanden nennen, der etwas mit dem damaligen Todesurteil gegen einen Söldner namens Gregor Uth Matar zu tun gehabt hatte.
Auch wenn nur wenige behaupten konnten, sie hätten Gregor gekannt, so gingen doch zahlreiche widersprüchliche Legenden über sein Schicksal in Whitsett um.
Der Neffe des damaligen Wärters erzählte Kitiara: »Mein Onkel wurde nicht wegen Bestechlichkeit gehängt, sondern weil ein bestimmter Mann entkommen ist. Das war die Anklage, die seine Feinde gegen ihn erhoben. In Wirklichkeit hat er den Gefangenen reingelegt und das Geld eingesteckt. Der eigentliche Grund für seine Hinrichtung war, daß er seinen Vorgesetzten um dessen Anteil an dem Bestechungsgeld gebracht hat. Was den Gefangenen selbst angeht, diesen Gregor, tja, ich glaube, der ist am Galgen geendet.«
Ein alter Mann aus dem Dorf berichtete Kit: »An jenem Tag gab es eine Massenhinrichtung. Nicht nur deinen Gregor – zehn, zwölf Männer. Aber es heißt, am Ende habe einer gefehlt, und diesem Mann soll man einen geheimen unterirdischen Gang gezeigt haben…« Der Alte konnte die Existenz eines solchen unterirdischen Fluchtwegs jedoch nicht beweisen.
Ein dritter Mann, der die Entscheidungsschlacht angeblich von einem Hügel aus mitangesehen hatte, sagte: »Ich habe gehört, sie hätten den Falschen erwischt. Dieser Gregor, das war ein ganz Schlauer. Er hat die Verschwörung geahnt und jemand anderen in seine Kleider gesteckt. Es wurde der falsche Gregor gefaßt und geköpft, während der wahre Gregor unerkannt entkam und aus dieser Gegend verschwand.«
Keiner konnte seine Version der Geschichte beweisen. Das schlimmste war, daß Kit keinem die Schuld geben, keinen hassen, keinen um ihres Vater willen töten konnte.
Nach drei Wochen in und um Whitsett verließ eine zutiefst enttäuschte Kit, nicht klüger als zuvor, den Ort wieder.
Über sieben Jahre durchstreifte Kitiara Uth Matar den Norden, immer gleichermaßen auf der Suche nach Abenteuern und Schätzen wie nach ihrem Vater. Sie hörte nichts mehr von Gregor. Falls er noch lebte, folgerte sie, war er nicht länger im Norden. Wenigstens gewann sie viele Reichtümer und viele Erfahrungen.
Von ihren Reisen ist wenig Sicheres bekannt.
Es heißt, daß Kitiara Verwandte ihres Vaters im Herzen von Solamnia aufsuchte, weil sie dort etwas über ihn zu erfahren hoffte. Sie wußten weniger als Kit. Von Gregor hatten sie seit vielen Jahren nichts mehr gehört, und ihre Fragen waren nicht willkommen. Dementsprechend kurz und unerfreulich war Kits Aufenthalt in jener Gegend.
Es heißt, daß Kitiara lange Zeit mit zwei Männern, zwei ausgezeichneten Schwertkämpfern, herumreiste. Sie zogen durch die Wildnis, wo sie einsamen Reisenden auflauerten. Ihre Begleiter waren beide in sie verliebt, und nach einem Streit tötete der eine im Rausch den anderen, nur um am anderen Morgen beim Aufwachen festzustellen, daß Kitiara verschwunden war.
Es heißt, daß Kitiara in einem Gasthaus eine Wette verlor und gezwungen war, einem Kopfgeldjäger zu gehorchen, der flüchtige Minotaurensklaven jagte. Er nutzte ihre Schulden bei ihm aus und hatte seinen Spaß daran, sie niedere Dienste verrichten zu lassen, zum Beispiel seine Stiefel zu putzen und zu wienern. Er hatte jedoch auch anziehende Seiten, und es machte ihr Spaß, die Minotauren zu verfolgen und dabei ihr Können als Fährtenleserin zu verbessern. Auf jeden Fall vertrieb sich Kitiara nur die Zeit und gewann nach sechs Wochen ihrerseits wieder. Der Kopfgeldjäger war ihr dann ebenso lange unterstellt.
Eine Zeitlang zog Kitiara als Pfadfinderin und Beschützerin mit Handelskarawanen herum, die auf ihrem Weg zur Grenze Hobgoblingebiet durchqueren mußten. Augenzeugen zufolge zeichnete sie sich bei zahlreichen Scharmützeln und Überfällen aus.
Mindestens zwei Monate soll Kit unter falschem Namen mit Macaires Bande im Nordwesten unterwegs gewesen sein – der Bande Gesetzloser unter der Leitung von Macaire, dem verschlagenen Halbmenschen, der dafür bekannt war, kleine Siedlungen und einsame Gehöfte zu überfallen und der nie gefaßt wurde. Die Beschreibung der Frau, die damals an Macaires Seite auftrat und ihm an Furchtlosigkeit gleichkam, paßte zu Kitiara. Ihr Deckname war »Finsteres Herz«.
Wieviel davon wahr ist und wieviel Gerede, ist unklar.
Wie man es auch zusammenzählt – von Monaten, ja, ganzen Jahren jener Zeit weiß man nicht, wo Kitiara steckte und was sie machte. Vielleicht war sie unter falschem Namen unterwegs. Vielleicht hatte sie irgend etwas umgeworfen.
In den ersten drei Jahren ihrer Fahrten kam sie zweimal zu sehr kurzen Besuchen nach Hause, um ihrer Familie Geld zu bringen. Ohne jedoch eine bewußte Entscheidung darüber zu treffen, waren vier weitere Jahre vergangen, ohne daß sie nach Solace gereist war oder daß sie etwas von ihrem Vater gehört hatte.
Fast sieben Jahre nachdem sie Ursa getötet hatte, war Kit in einer Mühlenstadt westlich von Palanthas in Küstenlund in einem Gasthaus abgestiegen, als ein Kender auf sie zukam.
Dieser Kender war jener Asa, der auf seinem Weg durch Krynn regelmäßig in Solace haltmachte, weil er Kräuter und Wurzeln sammelte und verkaufte. Neben anderen Aktivitäten besserte er sein Einkommen durch Kurierdienste auf.
Wie er Kitiara ausfindig machte, ist nicht recht klar. Aber Kender haben da so ihre Methoden.
Der Kender händigte Kit ein versiegeltes Papier von Caramon aus, erntete für seine Mühe jedoch nicht den wohlverdienten Lohn, sondern finstere Blicke, bis er sich verzog. Der Brief lautete:
Liebe Kitiara,
dieser Kender sagt, wenn dich überhaupt jemand finden kann, dann er, also habe ich ihm sechs Münzen dafür gegeben. Kender sind diebisch, aber ehrlich, also hoffe ich, es gelingt ihm, und zwar bald.
Ich schreibe diesen Brief eigenhändig, aber Raistlin sagt mir, was ich schreiben soll. Er würde selbst schreiben, aber er ist müde von der Anstrengung, unserer lieben Mutter beizustehen, die im Sterben liegt.