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Zuerst muß ich dir sagen, daß wir vor kurzem eine schlimme Tragödie erlebt haben. Unser armer, geliebter Vater Gilon ist tot.

Es waren furchtbar widrige Umstände, und ich glaube, es war einfach Schicksal.

Anscheinend war er am Baumfällen, als sich ein Sturm zusammenbraute. Er hätte aufhören sollen, denn der Wind frischte unerwartet aus einer anderen Richtung auf und blies den Baum so um, daß sein Bein darunter eingeklemmt und zerquetscht wurde. Gilon konnte sich nicht herauswinden.

Vielleicht war der Sturm schuld, daß ich Amber nicht gleich vor der Tür bellen hörte. Ich war erstaunt, daß Gilon nicht bei ihr war. Raistlin war in der Zauberschule, und ich paßte auf Rosamund auf. Ich rannte hinter Amber her, aber ich brauchte mindestens eine Stunde, bis ich an den Platz kam, wo Gilon gefangen war.

Weil ich nicht gewußt hatte, was los war, hatte ich keine passende Ausrüstung dabei, so daß ich eine weitere Stunde brauchte, bis ich Gilon befreit und eine einfache Trage für ihn gebaut hatte, auf der ich ihn nach Hause ziehen konnte (denn er konnte natürlich nicht laufen).

Bis dahin war der Unfall schon mehrere Stunden her. Sein Bein war schwarz vom Blut und von der Entzündung. Er war nicht bei Bewußtsein.

Der Kleriker sagte, sein Bein hätte sowieso abgenommen werden müssen, wenn er nicht an Lungenentzündung gestorben wäre, weil er so lange im kalten Wind und im Regen gelegen hatte. Er starb noch auf dem Heimweg. Erst als wir ankamen, merkte ich, daß er tot war.

Wir sind sehr traurig. Das Haus ist nicht mehr dasselbe.

Raistlin sagt, ich hätte mein Bestes getan.

Diese Nachricht hat Mutter zerstört. Oh, Kit, es war schrecklich, es ihr sagen zu müssen. Raistlin wollte das übernehmen.

Das ist jetzt ein paar Wochen her. Mutter ist so bleich wie der Tod und lebt kaum noch. Raistlin ist sehr geschickt darin geworden, ihre Schmerzen mit Tränken zu lindern.

(Ich bin ein sehr guter Schwertkämpfer geworden, und ich wünschte, du wärst hier, damit ich mit dir ein paar Dinge ausprobieren könnte.)

Aber sie lebt nicht mehr lange, und ich wünschte, du wärst hier, um uns zu helfen. Wenn der Kender dich mit diesem Brief findet, dann entschuldige ich mich, weil er so lang ist. Aber wenn du kannst, dann wünschte ich, du würdest kommen.

Deine Brüder,

Caramon und Raistlin

Kit legte den Brief hin. Ihre Beine lagen auf dem Tisch. Ihr Bierkrug blieb unangerührt, während sie gedankenverloren und stirnrunzelnd dasaß.

Um die Wahrheit zu sagen, dachte Kitiara hin und wieder an zu Hause – an das Haus, an ihre alten Freunde und Feinde dort, an Gilon, an ihre Brüder, an Rosamund.

Der Brief war eine Ausrede für ihre Heimreise. Innerhalb von einer Stunde hatte sie ihre Rechnung beglichen, ihr Pferd gesattelt und es mit Geschenken und Schätzen beladen.

Die rundliche Frau, die über die Straße ging, war so überrascht von dem Pferd, das plötzlich an ihr vorbeigaloppierte und Matsch auf ihre saubere weiße Schürze spritzte, daß ihr kaum Zeit blieb, den Reiter anzusehen.

Eine schlanke, durchtrainierte junge Frau mit feiner Hose und glänzendem Brustpanzer saß im Sattel, und ihr unbändiges schwarzes Haar wippte auf und ab. Hinter ihr flatterte ein tiefroter Mantel.

Minna drohte der arroganten Reiterin mit der Faust und zupfte dann ihren Haarknoten zurecht. Sie hatte Kitiara Uth Matar nicht erkannte, und diese hatte die alte Hebamme gar nicht bemerkt.

Im Haus Majere mischten sich Freude und Trauer. Die Jungen begrüßten Kitiara herzlich. Jungen! Mit sechzehn waren sie bereits junge Männer. Raistlin war groß und schwächlich und hatte seinen üblichen Husten, doch er sah seine Halbschwester voller Wärme an. Der kräftige Caramon zerquetschte Kit beinahe in seinen Armen, bis sie ihm streng befahl, sie loszulassen.

Beide bestaunten ihre Rüstung und die feine Kleidung, den kräftigen Rotschimmel, den sie ritt, und die Pakete, die er schleppte. Sie hatte Geld dabei, um die alten Schulden zu begleichen, dazu einen Haufen Geschenke für die beiden.

Das glückliche Wiedersehen wurde von der Tragödie überschattet, die sich im Inneren des Hauses abspielte, wo Rosamund im Sterben lag. Sie sah aus wie ein Gespenst. Ihr Kämmerchen war mit Kerzen beleuchtet, und ihre treue Schwester Quivera saß an ihrem Bett. Quivera nickte Kit unsicher zu, als diese schließlich eintrat.

Rosamund nahm kaum oder gar nicht wahr, daß Kit nach Hause gekommen war.

Kit beschloß, in Gilons Bett zu schlafen, um während der letzten Tage ihrer Mutter immer greifbar zu sein. Doch die Tage zogen sich in die Länge, und Rosamund starb nicht. Sie machte die Augen nicht mehr auf, sie verließ ihr Bett nicht mehr, und ihr Atem ging in schwachen Zügen, doch sie starb nicht.

Eines Morgens begegnete Kit unten auf dem Markt Aurelie. Ihre alte Freundin war kerngesund, doch sie war inzwischen verheiratet und hatte zwei kleine Kinder. Ein gutaussehender, dicker Bauer, der ihre Einkäufe trug, musterte Kit, um dann an Aurelie zu zerren. Das Paar lief rasch weiter. Die alten Freundinnen hatten einander wenig zu sagen.

Einen Nachmittag ging Kit mit Caramon reiten. Der ältere Zwilling hatte sich sehr verändert – er war nicht nur größer und stärker, sondern auch klüger geworden. Durch Gilons Tod war er gereift. Wenn Kit ihrem Halbbruder jetzt in die Augen sah, mußte sie an, ihren Stiefvater denken. Wie sehr der Junge Gilon ähnelte. Außerdem hatte Caramon die beständige Gutmütigkeit seines Vaters geerbt.

Auch in anderer Hinsicht hatte sich Caramon verändert. Kit bemerkte schmunzelnd, daß er sich hin und wieder spätabends davonstahl, um sich unten am Krystallmirsee mit einem der Dorfmädchen zu treffen.

Meistens hielt Kit nachts eine Weile mit Raistlin Wache, der die Aufgabe übernommen hatte, sich in den dunkelsten Stunden um Rosamund zu kümmern. Die Visionen, unter denen Rosamund sonst gelitten hatte, ließen nach, aber sie neigte immer noch dazu, sich stöhnend hin- und herzuwerfen. Auf diese armselige Weise verbrauchte Kits Mutter das bißchen Energie, das sie noch hatte.

Im Gegensatz zu Caramon war Raistlin wenig gesprächig – ganz im Gegenteil. Aber in seinem Fall hatte Kitiara gelernt, auf die Pausen zu achten, und die gemeinsam verbrachte Zeit an Rosamunds Krankenbett erneuerte trotz der schlimmen Begleitumstände ihre Bindung.

Rosamunds Schwester war die meiste Zeit bei ihnen. Tagsüber löste sie Kit ab, und nachts schlief sie zusammengerollt auf einer Matratze im großen Raum vor dem Feuer. Als schlichte Frau machte Quivera einen weiten Bogen um Kitiara, und für die Tochter von Gregor war sie kaum vorhanden.

Solace erschien ihr kleiner und langweiliger denn je. Die Familie war in einem ebenso zähen wie schrecklichen Schwebezustand gefangen. Vor ihrer Ankunft hatte Kit sich irgendwie vorgestellt, sie könnte endlich mit Rosamund Frieden schließen, doch ihre Mutter war so weit entfernt, daß sie auf Worte nicht mehr reagieren konnte. Und Kitiara fragte sich, was sie ihrer Mutter überhaupt hätte sagen wollen.

Kit wünschte sich dringlichst, es wäre alles vorüber. Und bei diesem Wunsch verspürte sie nicht das geringste Schuldgefühl.

Fünf Wochen nach dem Tag, an dem Kitiara in Solace eingetroffen war, starb Rosamund. Raistlin war mit ihr allein gewesen und weckte die anderen, um es ihnen zu sagen. Am Morgen eröffnete Kitiara ihren Brüdern, daß sie nicht bis zum Begräbnis bleiben würde, welches in Solace traditionsgemäß erst nach drei Tagen stattfand.

»Bleib«, bat Caramon.

»Ist in Ordnung«, sagte Raistlin. »Geh.«

Jeder hatte auf seine Weise verstanden.

Während Rosamunds Körper gewaschen und in Leinen gewickelt wurde, sah Kitiara nach ihrem Pferd, das unter der Hängebrücke zum Haus stand. Sie kam herauf, um sich zu verabschieden und um jedem Bruder einen kleinen Lederbeutel mit sorgfältig ausgewählten Edelsteinen zu schenken, die so viel wert waren, daß beide für mindestens ein Jahr alle Sorgen los waren.