Rosamund war immer noch nicht wieder ganz bei Bewußtsein, obwohl sie heute ruhiger schlief und leichter atmete.
»Wie geht es uns?« fragte Minna, während sie Rosamunds Bauch abtastete.
»Nicht so gut«, antwortete Gilon mit offensichtlicher Sorge. »Sie hat weiterhin Fieber, und sie hat eigentlich noch gar nicht die Augen aufgemacht. Sie ist zu schwach zum Essen.«
»Mmmmm. Das arme Ding hat viel Blut verloren. Ich denke, sie wird es schon schaffen, auch wenn es Wochen dauern kann, bis sie sich selbst um ihre kleinen Babys kümmern kann. Vergiß das Essen. Achte nur darauf, daß sie reichlich von dem Heiltee trinkt, den ich euch dalasse. Und achte darauf, daß sie nicht durch wilde Spiele gestört wird«, fügte Minna mit einem vielsagenden Blick in Kits Richtung hinzu. »Ich würde sie an deiner Stelle in das kleine Zimmer legen. Sie braucht etwas Ruhe.«
Im Augenblick sah Kit, die versuchte, beide Kinder zu wiegen, allerdings eher wie eine gehetzte Hausfrau denn wie eine mögliche Unruhestifterin aus. Sie drehte Minna den Rücken zu, um den kleinen Raistlin den scharfen Augen der Hebamme zu entziehen.
Der Raum, auf den Minna anspielte, war der einzige Nebenraum der Hütte. An der Nordwand war ein kleines Stück abgeteilt, wo Rosamund die Näharbeiten machte, mit denen sie etwas Geld für den Haushalt dazu verdiente. Gilon sah ein, daß Minnas Rat klug war, und nickte zustimmend.
»Du kennst doch meine Schwester Yarly? Sie wird die nächsten paar Tage nach Rosamund sehen, dann brauche ich euch nicht mit meiner Meinung zu ärgern. Danach kommt ihr wohl allein zurecht.«
Minna war herangetreten, damit sie über Kitiaras Schulter einen Blick auf Raistlin werfen konnte. Kit drehte sich um und starrte der Hebamme, die sich überall einmischte, trotzig ins Gesicht. Minna sah betont auf das zarte Kind herunter, schniefte mitleidig und schaute dann zu dem robusten, das zufrieden in der Wiege an seiner Flasche nuckelte.
Raistlin war blaß und stand noch nicht allzu fest im Leben. Den ganzen Morgen hatte Kit sich bemüht, nicht an das zu denken, was Minna über schwächliche, zweite Babys gesagt hatte.
»Hmpf«, machte Minna, als sie sich abwandte.
Sie zog Gilon beiseite und holte etwas aus der Tasche.
Dann zeigte sie ihm kurz, wie er einen Lederriemen umlegen sollte, mit dem man das eine Baby am Körper tragen konnte, gleichzeitig aber die Hände für andere Aufgaben frei hatte. Schließlich sagte Minna in barschem Ton auf Wiedersehen und zog mit Yarly ab.
»Na gut«, sagte Gilon, nachdem er unschlüssig einen Moment geschwiegen hatte. »Nett von ihr, daß sie vorbeigeschaut hat.«
Kitiara murmelte eine unverständliche Antwort.
»Und das Ding hier ist wirklich praktisch«, meinte Gilon gutmütig, wobei er die Schlinge hochhielt. »Mal sehen, ob wir es dir anlegen können.«Die nächsten drei Wochen trug Kit Raistlin in der Schlinge ständig bei sich. Die Atmung des Babys wurde besser, war aber immer noch nicht stark oder stetig. Jeden Moment konnte es vorkommen, daß Kit alles fallenlassen mußte, um seine Fußsohlen zu reiben und damit seine Atmung und seinen Kreislauf anzuregen.
An den meisten Abenden kippte Kit angezogen und todmüde ins Bett. Wenn sie morgens erwachte, hatte sie meistens noch Minnas Schlinge um, so daß sie Raistlin aus Gilons müden Armen entgegennehmen und weitermachen konnte.
Am ersten Morgen der vierten Woche bemerkte Kit beim Aufwachen, daß sie verschlafen hatte. Sie sprang aus dem Bett, kletterte die Leiter hinunter und sah sich um. Caramon trat kräftig in seiner Wiege herum, aber Raistlin schlief noch in der zweiten Holzwiege, die Gilon eilig zusammengezimmert hatte.
Kit warf einen Blick in den kleinen Nebenraum und sah, daß auch ihre Mutter noch schlief. Rosamund war seit der schweren Geburt bettlägerig. An den meisten Tagen regte sie sich kaum, oft konnte sie nicht einmal sprechen. Sie mußte ebenso sorgfältig beobachtet werden wie Raistlin. Wenn man sie nur einen Moment aus den Augen ließ, konnte Kits Mutter senkrecht und mit weit offenen Augen hochschrecken und vor Angst losheulen. Inzwischen zeigte sie auf Dinge, die niemand sehen konnte und faselte nur noch unzusammenhängendes Zeug.
Neben ihrem großen Bett lag eine Strohmatratze, auf der Gilon gewöhnlich schlief. Es war seine Aufgabe geworden, den starken Tee zu bereiten, der Rosamund manchmal beruhigen konnte. Doch selbst mit dem Beruhigungstee konnte man nie sagen, wie lange ihre plötzlichen Trancen dauern würden. Kits Stiefvater betrachtete seine Frau inzwischen mit mehr und mehr Kummer, denn die sanfte Frau, die er einmal geliebt hatte, war einer unberechenbaren Fremden gewichen.
Heute war sein Lager leer und Gilon schon fort. Seit der Geburt der Zwillinge war er zu selten in den Wald gegangen. Der Haushalt konnte es schlecht verkraften, wenn sowohl sein Lohn als auch die mageren Beträge ausblieben, die Rosamund mit Nähen und Flicken verdient hatte. Kit hatte Gilon gegenüber darauf bestanden, sich voll und ganz der Pflege der Zwillinge zu widmen, wenn er wieder arbeiten ging.
Bei Caramon war das einfach. Solange man seine Windel nicht zu naß werden ließ, ging es ihm gut. Laut, rastlos, ständig hungrig, aber gesund.
Mit Raistlin war es anders. Kit mußte ihn genau beobachten, auf sein Atmen hören und ihn dazu bringen, daß er aß. Das kleine Mädchen fand diese Pflichten nicht annähernd so erschöpfend wie die Zeit, in der sie an das Kind dachte und Raistlin inständig aufforderte, doch endlich stärker zu werden.
Als sie heute ans Frühstückmachen ging, hörte Kit ein leises Geräusch und sah sich um. Zu ihrer Überraschung stand Rosamund – wacklig, aber sie stand – auf der Schwelle zu ihrem Raum. Wenn Kit ihr nicht in die Augen gesehen hätte, hätte sie glauben können, es ginge ihrer Mutter gut. Aber Rosamunds Augen waren verschwommen und blicklos.
Als Gilon eine Weile vor der Dämmerung heimkam, begrüßte Kitiara ihn an der Tür. Sie waren übereingekommen, daß Kit bei seiner Rückkehr auf der Stelle aus der engen Hütte fliehen durfte. Anstatt sich gleich zum Abendessen hinzusetzen, spielte die Achtjährige bis zur völligen Dunkelheit. Meistens übte sie Fechten, und zwar so versunken, als wollte sie ihr ganzes Kindsein in die wenigen Stunden zwängen.
»Mutter ist heute viel im Haus herumgelaufen«, berichtete Kit Gilon heute, während sie sich zum Gehen fertigmachte. »Ich mußte sie einmal am Bett festbinden.«
Gilon zog überrascht die Augen hoch und schaute dann in den kleinen Nebenraum. In ihrem fleckigen Nachthemd saß Rosamund in der Ecke im Schaukelstuhl und bewegte die Hände, als würde sie stricken, doch sie hatte weder Nadeln noch Wolle.
»Ich weiß nicht, was die Zwillinge von ihrer Mutter denken, aber sie hat sie überhaupt nicht beachtet«, erzählte Kit Gilon mit einer gewissen Befriedigung, bevor sie in den warmen Sommerabend hinausschoß.
Als die Zwillinge sechs Wochen alt waren, kam Kitiara abends nach dem Spielen nach Hause und fand Rosamund am Küchentisch sitzend vor, wo sie Raistlin auf dem Arm hatte und Caramon in seiner Wiege etwas vorsang. Obwohl Gilon ihr bestimmt geholfen hatte, zu baden und sich anzuziehen, sah Kits Mutter nach der wochenlangen Krankheit immer noch aus wie ein Geist. Doch ihr Gesicht strahlte genauso wie das von Gilon, der daneben stand und die Szene mit freudigem Stolz betrachtete.
Rosamund wandte sich von den Zwillingen ab, als sie Kit in der Tür hörte, und winkte ihre Tochter warmherzig heran. Sie legte Raistlin in seine Wiege, damit sie dem Mädchen ihre blaugeäderten Hände auf die kräftigen Schultern legen konnte. Rosamund versuchte, Kit an sich zu drücken, doch ihre Tochter wich zurück.