Singh antwortete nicht, aber das hatte Stanley wohl auch nicht wirklich erwartet, denn er setzte seine Musterung fort und wandte sich an Juan. »Wie ist dein Name, mein Junge?«
»Juan«, antwortete Juan. »Juan de Perodesta. « »Spanier also.
« Stanley nickte und maß Trautman mit einem nachdenklichen Blick. »Trautman... « sagte er gedehnt. »Das klingt, als wären Sie ein Landsmann von Mister Brockmann. Da haben wir ja eine richtige multinationale Mannschaft, wie? Und da sage noch einmal jemand, daß verschiedene Völker nicht friedlich zusammenarbeiten können. «
Als nächstes kam Serena an die Reihe. »Und du, meine Kleine?« Er hob rasch die Hand. »Laß mich raten
– das blonde Haar, ein sehr hübsches Gesicht... Schweden? Norwegen?«
»Ich komme aus Atlantis«, antwortete Serena. »Falls Sie wissen, wo das liegt. «
Stanley blinzelte, starrte Serena eine Sekunde lang verblüfft an und lachte schließlich wieder. »In der Tat«, sagte er, »eine wirklich erstaunliche Mannschaft haben Sie da, Mister Trautman. Aber irgendwie paßt sie auch zu Ihrem Schiff. Sie haben diesen Koloß tatsächlich nur mit einer Besatzung aus einer Handvoll Kinder gesteuert?«
»Was für eine Art von Schiff ist das überhaupt?« fragte Brockmann. »Ich habe so eine Konstruktion noch nie gesehen. «
»Das glaube ich Ihnen gerne«, sagte Serena. Mike versuchte sie mit einem fast verzweifelten Blick zum Schweigen zu bringen, aber sie bemerkte es nicht. »Es stammt aus meiner Heimat. «
»A ja, aus Atlantis, ich verstehe«, sagte Stanley lächelnd. »Was für eine dumme Frage – deswegen ist es auch ein Unterseeboot, nicht wahr? Verraten Sie mir, unter welcher Flagge Sie fahren, Mister Trautman, und wie Ihr Schiff heißt?«
»Unter keiner Flagge«, sagte Trautman. »Und das Schiff heißt NAUTILUS. «
»NAUTILUS, originell«, sagte Stanley. Er lächelte erneut, aber nur für ungefähr eine halbe Sekunde, dann gefror das Lächeln regelrecht auf seinem Gesicht. Mit einem Ausdruck vollkommener Fassungslosigkeit starrte er erst Trautman an, dann fuhr er herum und sah sich wild um, so, als erwarte er im nächsten Moment etwas Ungeheuerliches zu erblicken. »EtwadieNAUTILUS?« fragte er.
»Sie haben es erraten«, antwortete Trautman. Er seufzte leise, als er Mikes entsetzten Blick bemerkte. »Er hätte es sowieso herausgefunden«, sagte er. »Tut mir leid, aber es ist aus. «
»Die NAUTILUS?« Stanley schien immer noch nicht fassen zu können, was er sah und hörte. »Kapitän Nemos Schiff! Unglaublich! Dann... dann existiert es wirklich. Es ist nicht nur eine Legende!« Kopfschüttelnd wandte er sich an Brockmann, der die ganze Zeit schweigend und mit vollkommen unbewegter Miene zugehört hatte. Dabei hatte der eine Satz, den er in akzentfreiem Englisch gesprochen hatte, bewiesen, daß er Stanleys Sprache ausgezeichnet beherrschte und jedes Wort verstanden haben mußte. Die Selbstbeherrschung, die dieser Mann an den Tag legte, war Mike beinahe unheimlich.
»Jetzt wird mir einiges klar«, sagte Stanley kopfschüttelnd. »Kein Wunder, daß wir Sie so lange vergeblich gesucht haben. Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was man sich über dieses Schiff erzählt, dann muß es zu wahren Wunderdingen fähig sein. « Mit einem plötzlichen Ruck drehte er sich wieder zu Trautman herum. Seine Augen wurden schmal. »Sie haben
mir nicht etwa einen falschen Namen genannt, Mister
Trautman? Oder sollte ich Sie besserKapitän Nemonennen?«
Trautman lächelte. »Nein. Ich bin nicht Nemo. Er ist schon lange tot. Und jetzt wäre ich Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie mir endlich erklären würden, was das alles hier zu bedeuten hat! Wieso schießen Sie auf uns? Was soll diese Hetzjagd? Wir haben Ihnen nichts getan. Das einzige, was wir uns haben zuschulden kommen lassen, war, Ihren Seemann zu retten. Ist das neuerdings ein Verbrechen?«
»Nein«, antwortete Stanley. Sein Lächeln erlosch wie abgeschaltet. Seine Stimme wurde hart. »Ich werde diesen Umstand selbstverständlich erwähnen. Vielleicht wird er Ihnen ja vor Gericht angerechnet. « »Vor Gericht? Was soll das heißen?« fragte Mike. »Das soll heißen, daß ihr alle zusammen Glück habt, daß wir nicht mehr zu Kapitän Nemos Zeiten leben«, sagte Brockmann an Stanleys Stelle. »Damals hätte man euch kaum den Prozeß gemacht, sondern euch kurzerhand erschossen. «
»Den Prozeß?! Aber was sollen wir denn getan haben?« »Wie wäre es mit Mord?« schlug Stanley vor. »Piraterie? Brandstiftung? Diebstahl... wahrscheinlich habe ich noch das eine oder andere vergessen, aber ich denke, für den Moment sollte das genügen. « »Wie bitte?« ächzte Ben. »Sind Sie verrückt? Wen sollen wir ermordet haben?«
»Es reicht, mein Junge«, sagte Stanley, der nun überhaupt nicht mehr freundlich klang, nicht einmal mehr geduldig. »Ich habe das Gefühl, du hältst das Ganze hier immer noch für ein großes Abenteuer, wie? Aber es ist kein Spiel. Das ist es
niemals gewesen. « Er straffte sich und drehte sich zu Trautman
herum. Seine Stimme wurde sachlich.
»Kapitän Trautman, ich verhafte Sie und Ihre Besatzung im Namen Seiner Majestät und des deutschen Kaisers wegen fortgesetzter Piraterie, Mord und Brandschatzung in mindestens siebenunddreißig Fällen. Ihr Schiff ist beschlagnahmt. Ich hoffe, Sie leisten keinen Widerstand. «
Angesichts des knappen Dutzends Gewehre, das noch immer auf sie gerichtet war, empfand Mike den letzten Satz als lächerlich. Aber Stanley schien ihn vollkommen ernst zu meinen, und auch Trautman sah nicht so drein, als amüsiere er sich.
»Das alles ist ein gewaltiger Irrtum, Kapitän Stanley«, sagte er. »Bitte hören Sie mir fünf Minuten zu. « »Man wird Ihnen weitaus länger zuhören, Mister Trautman«, sagte Stanley. »Aber nicht hier und nicht jetzt. Sie werden ausreichend Gelegenheit haben, sich zu rechtfertigen. «
»Sie begehen einen furchtbaren Fehler, Stanley«, sagte Trautman.
»Nein«, sagte Brockmann.»Siehaben einen Fehler gemacht, Trautman. Haben Sie wirklich geglaubt, daß wir weiter tatenlos zusehen, wie Sie unsere Schiffe versenken und unsere Hafenstädte in Brand schießen? Oder waren Sie tatsächlich so naiv, zu glauben, daß Sie die Kriegswirren ausnutzen können, um sich als Pirat zu betätigen?«
»Wir haben nichts von alledem getan«, antwortete Trautman. »Aber wir wissen, wer es war. Wir sind aus demselben Grund hier wie Sie, Herr Kapitänleutnant. Und ich glaube, wir sind dem Mann, den Sie jagen, ganz dicht auf den Fersen. Aber wenn Sie uns jetzt verhaften und die Suche abbrechen, dann entkommt er. Und die Verantwortung für das nächste Schiff, das er versenkt, oder die nächste Stadt, die er in Brand schießt, tragen Sie dann. «
Brockmann war keinerlei Reaktion anzumerken, aber Stanley sah tatsächlich ein wenig verunsichert drein. Er sagte nichts, blickte Trautman aber plötzlich sehr nachdenklich an.
»Ich flehe Sie an!« sagte Trautman. »Ich verlange nicht, daß Sie uns laufen lassen, aber setzen Sie wenigstens die Suche fort. Wir können Ihnen dabei helfen. « »Darauf wette ich«, sagte Stanley spöttisch, aber Trautman blieb ernst. Seine Stimme wurde fast beschwörend.
»Die NAUTILUS hat eine viel größere Chance, die LEO-POLD zu finden, als Ihre Schiffe!« sagte er. »Schicken Sie eine Besatzung an Bord. Zwanzig, dreißig – so viele Ihrer Soldaten, wie Sie wollen! Was können wir schon tun? Ein alter Mann und eine Handvoll Kinder!« Tatsächlich schien Stanley einen Moment ernsthaft über diesen Vorschlag nachzudenken. Aber bevor er antworten konnte, fragte Brockmann: »Von welchem Schiff haben Sie gerade gesprochen? Die LEOPOLD?« »Ich sehe, der Name sagt Ihnen etwas«, erwiderte Trautman. »Ja. Es war Kapitän Winterfeld, der dies alles getan hat. Nicht wir. Ich kann es beweisen. « Brockmann schwieg, aber Stanley wirkte plötzlich noch nachdenklicher, als er sich an seinen deutschen Offizierskollegen wandte. »Verzeihen Sie mir meine Neugier, Herr Kapitänleutnant – aber könnte es sein, daß es da etwas gibt, was ich wissen sollte?« »Nein«, antwortete Brockmann. Er war vielleicht ein tadelloser Offizier, dachte Mike, aber kein besonders überzeugender Lügner. Trotzdem fuhr er fort: »Ein Bluff, mehr nicht. Es gab da einen... Zwischenfall, vor einem Jahr, das ist richtig. Aber ein deutscher Offizier würde so etwas nie tun. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. « »Eine Hand wird kaum reichen«, sagte Ben. »Wir haben gesehen, wozu Winterfeld in der Lage ist. « Er deutete rasch hintereinander auf die GRISSOM und die HALLSTADT. »Die LEOPOLD ist ein Schlachtschiff, Herr Brockmann. Können Sie sich vorstellen, was sie mit Ihren beiden Schiffen macht, wenn Sie wirklich das Pech haben, sie zu finden?«