Mike erkannte Brockmann kaum wieder. Der Kapitänleutnant war verletzt. Er hatte den rechten Arm angewinkelt und zog das Bein nach, und sein Gesicht und seine Schulter waren voller Blut. Er musterte Winterfeld mit blankem Haß.
»Herr Brockmann!« Winterfeld trat Brockmann entgegen und salutierte. Brockmann rührte sich nicht. Er starrte Winterfeld nur weiter aus brennenden Augen an. »Sie sind verletzt, wie ich sehe«, fuhr Winterfeld fort. »Das bedauere ich. Sie werden sofort ärztlich versorgt, sobald wir auf meinem Schiff sind. « »Danke, ich verzichte«, antwortete Brockmann. Seine Stimme bebte. Auch die Selbstbeherrschung dieses Mannes hatte Grenzen. »Ich lege keinen Wert darauf, Hilfe von Piraten und Mördern zu bekommen. « »Sie enttäuschen mich, Herr Kapitänleutnant«, sagte Winterfeld kopfschüttelnd. »Fällt es Ihnen so schwer, eine Niederlage hinzunehmen? Wenn es Sie tröstet – Sie hatten keine Chance. Nicht mit diesem Schiff. « »Das war keine Niederlage«, antwortete Brockmann. »Das war Mord. Ich lehne es ab, mit Ihnen zu reden. « »Aber, Herr Brockmann«, sagte Winterfeld kopfschüttelnd. »Ich bitte Sie! Sie sind Soldat wie ich. Muß ich Sie daran erinnern, daß Sie selbst vor nicht einmal zwei Monaten eine französische Fregatte versenkt haben. Die Zahl der Opfer belief sich, wenn ich mich richtig erinnere, auf –«
»Ich verbitte mir diesen Vergleich«, unterbrach ihn Brockmann scharf. »Wir sind im Krieg. Aber das hier war ein Akt der Piraterie!«
»Das ist Auffassungssache«, antwortete Winterfeld achselzuckend. »Nun, wir werden auch darüber noch ausgiebig diskutieren können. Im Moment ist leider keine Zeit dafür. Ist Ihr Erster Offizier noch am Leben?« »Ich glaube ja«, antwortete Brockmann. »Warum? Wollen Sie ihn ertränken lassen?«
Winterfeld nahm die Provokation hin, ohne mit der Wimper zu zucken. »Bitte lassen Sie ihn suchen, und übergeben Sie ihm das Kommando über Ihr Schiff«, sagte er. Er machte eine Geste auf das Meer hinaus.»Meine Männer werden ihm dabei behilflich sein, die Überlebenden der GRISSOM zu bergen. Die HALLSTADT ist zwar manövrierunfähig, aber sie wird nicht sinken. Und sobald wir einen ausreichenden Sicherheitsabstand erreicht haben, werde ich ihr Hilfe schicken. Sie werden mich auf die LEOPOLD begleiten müssen, fürchte ich. «
»Und wenn ich mich weigere?« fragte Brockmann. Winterfeld schüttelte tadelnd den Kopf. »Sie sind nicht in der Situation, sich zu weigern«, sagte er. »Ich schlage Ihnen einen Handel unter Offizieren und Ehrenmännern vor. Ich verzichte darauf, dieses Wrack endgültig zu versenken, und Sie geben mir Ihr Ehrenwort, mich zu begleiten und keinen Fluchtversuch zu unternehmen. « Er maß Brockmann mit einem langen, nachdenklichen Blick. »Einverstanden?« »Habe ich eine andere Wahl?« fragte Brockmann. »Kaum«, antwortete Winterfeld. »Also?« »Sie haben mein Wort«, sagte Brockmann zornig. »Aber nur, weil –« Winterfeld unterbrach ihn mit einer Geste, mit der er Brockmanns Bewacher gleichzeitig befahl, ihn loszulassen. Der riesenhafte Mann schwankte, aber er hielt sich aus eigener Kraft auf den Füßen. »Also gut, meine Herren«, sagte Winterfeld, wandte sich kurz zu Serena um und verbeugte sich spöttisch. »Und meine Dame, selbstverständlich. Gehen wir. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. «
Eine knappe halbe Stunde, nachdem man sie an Bord der LEOPOLD gebracht hatte, nahm das Schiff wieder Fahrt auf, und kurz darauf wurden Mike und Trautman zu Winterfeld gebracht. Die Kabine, in der sie gemeinsam untergebracht waren, hatte keine Fenster, so daß sie keinen Blick nach draußen werfen konnten, aber Mike war kein bißchen überrascht, als sie auf das Deck hinaustraten und sahen, daß das Schlachtschiff wieder Kurs auf das offene Meer genommen hatte – und daß die NAUTILUS ihnen folgte. Das Tauchboot war mit einigen dicken Tauen und einer Ankerkette mit fast mannsgroßen, stählernen Gliedern an der LEOPOLD befestigt, und obwohl der Anblick Mike einen tiefen Stich versetzte, beruhigte er ihn auch zugleich ein wenig, denn er bewies, daß Winterfelds Männer nicht in der Lage waren, das Schiff zu steuern. Winterfeld erwartete sie in der Kapitänskajüte, unmittelbar hinter der Brücke. Mike war nicht zum ersten Mal hier, aber er erkannte den Raum trotzdem kaum wieder. Die ehedem so pedantisch aufgeräumte Kabine hatte sich in ein Chaos verwandelt. Ein zweiter Tisch war hereingeschafft worden, auf dem sich Karten, Bücher und Hunderte von eng beschriebenen Blättern stapelten, das Bild des deutschen Kaisers und die dazu passende Fahne, die die Wand hinter Winterfelds Schreibtisch geziert hatten, waren verschwunden und hatten weiteren Karten und großformatigen Diagrammen und Blättern mit mathematischen Formeln und Berechnungen Platz gemacht, und auch Winterfelds Schreibtisch brach schier unter der Last von noch mehr Karten, Büchern und Diagrammen zusammen. Der Anblick verwirrte Mike. Er hatte damit gerechnet, daß es hier nicht mehr so aussehen würde wie bei seinem letzten Besuch – aber Winterfelds Kabine sah ganz und gar nicht so aus wie die Kommandozentrale einesPiratenschiffes.
Er erlebte eine zweite Überraschung, als wenige Sekunden nach ihrem Eintreffen die Tür erneut geöffnet wurde und mehrere von Winterfelds Soldaten Kapitänleutnant Brockmann und seinen englischen Kollegen Stanley hereinführten. Brockmann humpelte jetzt viel mehr als vorhin, aber er hatte eine saubere Jacke an, und die Platzwunde in seinem Gesicht war behandelt worden. Sein Arm hing in einer Schlinge. Offensichtlich hatte sein Stolz doch nicht so weit gereicht, daß er es ablehnte, von WinterfeldsÄrzten behandelt zu werden. Stanley war unverletzt, aber sein Gesichtsausdruck war ebenso finster wie der des Deutschen. Beide Männer nahmen auf einen Wink Winterfelds hin wortlos Platz. Auf einen zweiten Wink hin verließen die Soldaten den Raum wieder.
»Nun, meine Herren«, begann Winterfeld, an die beiden Offiziere gewandt, »ich hoffe, Sie hatten Gelegenheit, sich ein wenig zu sammeln. Die überlebenden Matrosen der GRISSOM wurden an Bord der HALLSTADT gebracht?«
Die Frage galt Brockmann, der sie mit einem nur angedeuteten Nicken beantwortete. Sein Gesicht war wie aus Stein. Er hatte sich jetzt wieder vollkommen in der Gewalt. Aber hinter der Maske scheinbarer Gelassenheit brodelte es, das konnte Mike ganz deutlich erkennen. Seine unverletzte Hand umklammerte die Lehne des Stuhles mit solcher Kraft, als versuche er sie zu zerbrechen.
»Wir haben mittlerweile einen entsprechenden Funkspruch abgesetzt«, fuhr Winterfeld fort, als er nach ein paar Sekunden begriff, daß Brockmann nicht antworten würde. »Man wird sich um die Männer kümmern. In Anbetracht der Umstände denke ich, daß man die Besatzung der HALLSTADT wohl auf freien Fuß setzen wird. Und wenn nicht... nun, wir wissen, wie ausgesucht höflich die Briten mit Kriegsgefangenen umgehen, nicht wahr? Sie brauchen sich also keine Sorgen um Ihre Männer zu machen, Herr Brockmann. «
»Da wäre ich nicht so sicher«, sagte Stanley. »Zumindest, wasSieangeht. Früher oder später kriegen wir Sie, Sie Verbrecher. Bauen Sie dann nicht zu sehr auf die englische Höflichkeit. Sie könnten eine böseÜberraschung erleben. «
»Aber, aber!« Winterfeld hob die Hand und schüttelte ein paarmal den Kopf. »Ich muß Sie doch bitten, Mister Stanley. Drohungen helfen uns hier nicht weiter. Wir sollten uns wie zivilisierte Menschen benehmen. « »Zivilisierte Menschen«, antwortete Stanley gepreßt, »betätigen sich nicht als Piraten und Mörder. « »Und dafür halten Sie mich?« Winterfeld wirkte ehrlich verletzt. »Nun, ich kann es Ihnen nicht einmal verübeln, wie die Dinge liegen. Aber ich kann Ihnen versichern, daß ich weder das eine noch das andere bin. « »Ach?« fragte Stanley. »Und was sonst?« »Wir sind hier, damit ich Ihnen die Situation erklären kann«, antwortete Winterfeld. »Ich bitte Sie, mir einfach fünf Minuten zuzuhören. Ich bin sicher, hinterher sehen Sie einiges anders. « Wieder wartete er einige Sekunden lang vergeblich auf eine Antwort, dann drehte er sich halb in seinem Sessel herum und wandte sich direkt an Mike.