nicht nur einige wenige, sondern Tausende. In meiner Welt wäre das
unvorstellbar gewesen. Wäre es so schlimm, sie daran zu
hindern?«
»Auf diese Weise, ja«, antwortete Trautman ernst. »Wenn geschieht, was Winterfeld hofft, wäre nicht nur der Krieg beendet. Millionen Menschen würden erfrieren und verhungern, Serena. Unsere Kultur mag weit entwickelt sein, aber sie ist auch sehr empfindlich. Manchmal reicht schon ein einziger harter Winter, um die Versorgung eines Landes zusammenbrechen zu lassen. Eine einzige schlechte Ernte führt bereits zu Hungersnöten, und manchmal kostet ein einziges Unwetter schon Hunderte von Menschenleben. Wir halten uns nur zu gerne für die Herren der Welt, aber die Wahrheit ist, daß wir den Naturgewalten kaum weniger ausgesetzt sind als unsere Vorfahren. « »Sie würden nicht aufhören, sich zu bekämpfen«, sagte Mike. »Die Menschen würden nicht mehr aufeinander schießen, weil man es ihnen befiehlt. Aber sie würden es tun, weil sie Hunger haben. Selbst wenn Winterfeld Erfolg hat, macht er alles nur noch schlimmer. Es gibt nur eine andere Art von Krieg – nicht mehr Nation gegen Nation, sondern Nachbar gegen Nachbar und Bruder gegen Bruder. Auch wenn er recht hat und es nur fünf Jahre dauert – Europa würde hinterher nicht mehr existieren. «
Serena sah ihn an. Sie antwortete nicht, aber Mike konnte regelrecht sehen, wie es hinter ihrer Stirn zu arbeiten begann. Sie wirkte plötzlich sehr traurig, aber da war noch etwas anderes in ihrem Blick, etwas, was Mike seltsam berührte und ihn mit einem Gefühl der Scham erfüllte, das er im ersten Moment nicht verstand.
Es war nicht das erste Mal, daß er sich fragte, wie Serena seine Welt wirklich sah. Sie waren jetzt so lange zusammen, daß er manchmal zu vergessen begann, was Serenawirklichwar, aber in Augenblicken wie diesen wurde es ihm immer wieder bewußt und meist auf sehr schmerzhafte Weise. Ganz plötzlich begriff er, daß das wenigste, was er Serena bisher von seiner Welt gezeigt hatte, gut gewesen war. Sie war als Prinzessin und zukünftige Herrscherin einer Welt des Friedens und der Eintracht in ihren gläsernen Sarg gestiegen, und sie hatte sich in einer Zukunft wiedergefunden, die fast ausschließlich aus Gewalt, aus Haß, aus Furcht und Neid bestand – zumindest war es das, was sie im Laufe des vergangenen Jahres immer wieder erlebt hatte. »Aber wenn das so ist, warum tut er es dann?« fragte Serena. »Er muß doch wissen, was geschieht!« »Ich fürchte, in einem Punkt hatte Kapitän Stanley recht«, sagte Mike. »Winterfeld hat den Verstand verloren. Ich glaube, daß Pauls Tod ihn innerlich zerbrochen hat. Er will nur noch den Krieg beenden, weil er ihm seinen Sohn genommen hat, und es ist ihm völlig egal, um welchen Preis. «
Ungefähr eine Stunde vor Sonnenuntergang erreichte die LEOPOLD die Position, an der die anderen Schiffe auf sie warteten. Es waren sieben vollkommen unterschiedliche Schiffe
– zwei gewaltige Frachter, die beinahe die Abmessungen der LEOPOLD selbst hatten, aber auch eine Anzahl kleinerer Schiffe, alle deutscher, britischer und französischer Abstammung. Winterfeld hatte sie wieder aus ihrer Unterkunft holen lassen, empfing sie aber jetzt nicht in seiner Kabine, sondern an Deck. Angesichts der Kälte und des schneidenden Windes hatten sie sich alle in die warmem Felljacken gehüllt, die ihnen Winterfelds Soldaten ausgehändigt hatten, und auch ihre Bewacher waren der Witterung angemessen gekleidet. Nur Winterfeld selbst trug nichts als eine weiße Paradeuniform, von der er, ebenso wie von allen anderen Kleidungsstücken, die er besaß, seine militärischen Rangabzeichen entfernt hatte.
Er mußte in dem dünnen Stoff erbärmlich frieren, aber er ließ sich nichts davon anmerken, sondern empfing sie in tadelloser Haltung und stand fast eine Minute vollkommen reglos da, während sein Blick aufmerksam über das Gesicht jedes einzelnen glitt. Und schon ein einziger Blick in seine Augen machte Mike klar, daß ihre Diskussion von soeben vollkommen sinnlos gewesen war: Es hätte überhaupt keinen Zweck, Winterfeld belügen zu wollen. Er würde es sofort erkennen. »Nun?« begann er. »Haben Sie sich entschieden? Mister Stanley?«
»Gehen Sie zum Teufel«, sagte Stanley grob. Winterfeld lächelte, deutete ein Achselzucken an und wandte sich an seinen deutschen Kameraden, um ihm dieselbe Frage zu stellen. Von ihm bekam er erst gar keine Antwort. Er ging auch darauf mit keinem Wort ein, sondern drehte sich zu Trautman herum. »Ich hoffe, Sie sind etwas vernünftiger als meine geschätzten Kollegen«, sagte er. »Bitte bedenken Sie, daß Sie nicht nur überIhrLeben entscheiden, sondern auch über das der Kinder. « »Lassen Sie sie gehen«, sagte Trautman, ohne dabei direkt auf Winterfelds Frage zu antworten. »Ich beschwöre Sie, Winterfeld – verschonen Sie sie! Ich bleibe hier, und Sie können mit mir machen, was Sie wollen, aber lassen Sie die Kinder gehen!«
»Alswasbleiben Sie hier?« erkundigte sich Winterfeld. »Als mein Gefangener oder als Steuermann der NAUTILUS?«
»Nein«, sagte Serena, ehe Trautman antworten konnte. »Diese Aufgabe werde ich übernehmen. « Mike starrte sie ungläubig an. Ein Gefühl, das beinahe an Entsetzen grenzte, begann sich in ihm breitzumachen. Für einen Moment weigerte er sich einfach, zu glauben, was er gehört hatte. Und auchdie anderen blickten Serena mit einer Mischung aus Überraschung, Staunen und Erschrecken an. Selbst Winterfeld verlor für einen Augenblick seine Fassung. »Wie?« fragte er.
»Ich werde die NAUTILUS steuern«, wiederholte Serena. »Unter der Bedingung, daß Sie mir Ihr Ehrenwort geben, daß Mike und den anderen nichts geschieht. « »Nie und nimmer!« sagte Mike impulsiv. »Das lasse ich nicht zu! Nicht du!«
Und das war das Falscheste, was er in diesem Moment überhaupt hatte sagen können. Er begriff es im selben Moment, in dem er die Worte aussprach, aber es war zu spät. Winterfelds Blick wanderte von ihm zu Serena und wieder zurück, und Mike konnte regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirnklickmachte. »So ist das also«, sagte er und lächelte. »Ja, ich hätte eigentlich schon von selbst darauf kommen müssen. Die Art, wie ihr euch anseht und miteinander umgeht... « Er lächelte noch breiter, wandte sich wieder an Serena und schüttelte den Kopf.
»Dein Angebot freut mich, aber ich fürchte, ich kann es nicht annehmen. « »Wieso?« fragte Serena.
»Weil ich dir nicht traue«, antwortete Winterfeld offen. »Siehst du, ich weiß sehr wohl, was du bist – und wozu dufähigbist. Immerhin hast du es mir schon einmal auf sehr drastische Weise bewiesen. Ich möchte wirklich nicht gerne allein mit dir auf einem Schiff sein. « »Aber Serena ist gar nicht mehr –« begann Chris, wurde aber sofort von Trautman unterbrochen: »Nicht mehr so unbeherrscht wie früher. « Er warf Chris einen beschwörenden Blick zu. Winterfeld glaubte ja noch immer, daß Serena im Besitz ihrer magischen Kräfte war, mit denen sie einst in der Lage gewesen war, ganze Stürme zu entfesseln. Und sie waren übereingekommen, ihn in diesem Glauben zu belassen. »Das glaube ich gerne«, antwortete Winterfeld. »Trotzdem – ich selbst weiß am besten, wozu verzweifelte Menschen imstande sind. Nein, ich fürchte, ich kann dein Angebot nicht annehmen. Aber du wirst an ihrer Stelle auf die NAUTILUS gehen. « Er deutete auf Mike.
»Was?« machte Mike überrascht. »Ich? Niemals!«