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»Ja. « Serena seufzte. »Ich kenne Kapitän Winterfeld zwar kaum, aber wißt ihr, nach allem, was ich in den letzten Tagen herausgefunden habe, könnte man beinahe glauben, daß er ganz allein dem Rest der Welt den Krieg erklärt hätte. « Vielleicht waren diese Worte sogar als Scherz gemeint, um die gedrückte Stimmung ein wenig zu mildern, die sich in den letzten Minuten im Salon der NAUTILUS breitgemacht hatte. Aber niemand lachte. Ganz im Gegenteil wirkten alle plötzlich sehr betroffen. Dabei konnten sie zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht ahnen,wierecht Serena mit ihren Worten haben sollte...

Die Jagd auf die LEOPOLD begann noch in derselben Stunde.

Wie sich zeigte, befanden sie sich nicht einmal weit von der Stelle entfernt, an der Winterfelds Schiff das letzte Mal gesichtet worden war. Sie rechneten nicht ernsthaft damit, die LEOPOLD dort noch anzutreffen, aber irgendwomußtensie mit ihrer Suche schließlich beginnen, und so nahm Trautman Kurs auf diesen Punkt, zehn Meilen von der Nordküste Schottlands entfernt.

Die NAUTILUS erreichte die bezeichnete Position kurz vor Mitternacht. Um nicht entdeckt zu werden – aber auch, weil das Schiff unter Wasser beinahe doppelt so schnell fahren konnte wie über Wasser –, hatten sie einen Großteil der Strecke tauchend zurückgelegt, und Trautman war extrem vorsichtig, als sie schließlich wieder nach oben kamen: Der Turm der NAUTILUS durchbrach die Wasseroberfläche gerade weit genug, daß sie den Ausstieg öffnen konnten. Erst als Singh, der nach oben geklettert war, meldete, daß sie allein waren, tauchte das Schiff ganz auf. Mike verstand diese Vorsichtsmaßnahmen nur zu gut. Es war sehr wichtig, daß die NAUTILUS nicht gesehen wurde. Sie war zwar jedem anderem Schiff auf der Welt überlegen und konnte im Notfall einfach tauchen und so jedem denkbaren Verfolger eine lange Nase drehen, aber ihr zuverlässigster Schutz war noch immer der Umstand, daß niemand von ihrer Existenz wußte. Wenn sich erst einmal herumsprach, daß das märchenhafte Schiff Kapitän Nemos tatsächlich existierte, dann würde eine weltweite Hetzjagd auf die NAUTILUS beginnen, der sie auf Dauer nicht entkommen konnten. Während des letzten Jahres hatten sie sich zumeist in einsamen Gegenden der Weltmeere aufgehalten, weitab von allen bekannten Schiffahrtsrouten. Hier und jetzt aber befanden sie sich in einem der dichtbefahrensten Gebiete der Meere. Der Erste Weltkrieg tobte seit einem guten Jahr, und er hatte auch vor dem Ozean nicht haltgemacht. Deutsche, britische und französische Schiffe hatten sich gerade vor den Küsten Englands schon mehr als ein Gefecht geliefert, und jeder, der hier draußen war, würde den Ozean sehr aufmerksam beobachten.

Aber im Augenblick waren sie allein. Viel zuverlässiger als ihre Augen überzeugten sie die technischen Gerätschaften der NAUTILUS davon, daß es im Umkreis mehrerer Meilen kein anderes Schiff gab. Und die Küste war fast zehn Meilen entfernt. Selbst mit dem besten Fernglas würde man das Schiff, das mit ausgeschalteten Lichtern auf dem Wasser trieb, nicht mehr ausmachen können. Und trotzdem... eine schwache, aber nagende Beunruhigung blieb. Es war das erste Mal, daß sie seit ihrer Flucht aus England zurück in diesen Teil der Welt kamen, und keinem von ihnen war sonderlich wohl dabei.

Mike war Singh auf das Deck der NAUTILUS hinauf gefolgt und stand fröstelnd in dem schneidenden Wind, der über das Meer strich. Es war kalt, und es gab außer der Schwärze der Nacht hier oben absolut nichts zu sehen. Trotzdem war er nicht der einzige, der heraufgekommen war. In einiger Entfernung bemerkte er Chris, der neben Singh stand und leise mit ihm sprach, und jetzt polterten hinter ihm Schritte auf der eisernen Treppe, die nach oben führte. Er drehte sich herum und erkannte Juan. Auf seiner Schulter hockte ein struppiger schwarzer Schatten: Astaroth, der einäugige Kater, der zusammen mit Serena an Bord gekommen war. Vermutlich, dachte Mike, wird es nicht mehr lange dauern, bis auch Ben und Trautman heraufkommen. Sie befanden sich jetzt seit mehr als einer Woche fast ununterbrochen unter Wasser, und so bequem und sicher die NAUTILUS auch sein mochte – auf die Dauer hatte man an Bord das Gefühl, eingesperrt zu sein, gefangen in einem stählernen Sarg, der Hunderte von Metern unter der Meeresoberfläche dahintrieb. Sie nutzten jede Möglichkeit, an Deck zu gehen, die frische Luft zu atmen und vor allem den freien Himmel über sich zu spüren.

Manchmal fragte sich Mike, wie lange sie dieses Leben wohl noch führen würden. Als sie die NAUTILUS gefunden hatten, da hatten sie Trautman mit Mühe und Not davon abbringen können, das Schiff zu zerstören, denn er war der Meinung gewesen, daß es eine zu große Gefahr darstellte, sollte es irgendwann einmal in falsche Hände geraten. Natürlich hatten sie dieses Ansinnen empört abgelehnt, aber mittlerweile war Mike nicht mehr so sicher wie damals, daß das richtig gewesen war. Der große Krieg, von dem sie nur manchmal hörten, während sie sich in den entlegensten Winkeln der Welt herumgetrieben hatten, schien Trautmans Worte auf grausame Weise zu bestätigen. Die ganze Welt war verrückt geworden. Wenn dieses Schiff tatsächlich einmal in die Hände einer der Kriegsparteien fallen sollte ... nein, der Gedanke war zu schrecklich, um ihn zu Ende zu verfolgen.

Er trat einen Schritt beiseite, damit Juan aus dem schmalen Ausstieg heraustreten konnte. Astaroth sprang mit einem Satz von seiner Schulter herunter und verschmolz mit der Farbe der Nacht, als er an Mike vorüberhuschte, und Juan atmete hörbar auf. Der Kater wog gute zwölf Pfund, und Mike wurde den Verdacht nicht los, daß er es sich einzig angewöhnt hatte, es sich dann und wann auf der Schulter eines der Jungen bequem zu machen und diesen als Reittier zu mißbrauchen, weil er genauwußte,wie unangenehm sein Gewicht auf die Dauer werden konnte. Trotz aller Fremdartigkeit und Intelligenz war Astaroth tief in sich immer noch eine typische Katze – auch wenn er jedem das Gesicht zerkratzt hätte, der es wagte, das laut zu sagen.

»Gibt es irgend etwas Neues?« fragte Juan. Was soll es hier schon Neues geben? dachte Mike. Sie befanden sich mitten auf dem Meer, zehn Seemeilen von der nächsten Küste entfernt. »Nein«, antwortete er. »Wir sind allein. « Er drehte sich herum, vergrub fröstelnd die Hände in den Jackentaschen und ließ seinen Blick über die Wasseroberfläche schweifen. Im fahlen Mondlicht wirkte der Ozean vollkommen flach und vollkommen schwarz, wie eine Ebene aus Teer. Die NAUTILUS bewegte sich zwar sanft im Rhythmus der Wellen, aber sie waren jetzt schon so lange an Bord des Schiffes, daß sie das längst nicht mehr bemerkten. »Ich frage mich, was wir hier wollen«, murmelte er. »Warten«, antwortete Juan. »Darauf, daß er das nächste Mal zuschlägt. « Sein Gesicht verdüsterte sich, als er Mikes Blick begegnete. »Ich finde es genauso furchtbar wie du, aber ich fürchte, wir haben keine andere Wahl. «

Mike sagte nichts. Und was auch? Der Gedanke war so schrecklich wie einfach: Sie hatten keine Ahnung, wo die LEOPOLD das nächste Mal zuschlagen würde. Alles, was sie tun konnten, war, abzuwarten, bis sie wieder ein Schiff versenkte oder einen Hafen in Brand schoß, um dann mit voller Kraft hinterherzufahren und zu versuchen, Winterfeld einzuholen. Serena saß unten am Funkgerät und lauschte aufmerksam in den Äther hinaus, so daß sie schon auf den leisesten SOS-Ruf reagieren konnten. Mike war sogar sicher, daß sie Winterfeld auf diese Weise finden würden. Aber die Vorstellung, daß sie tatenlos abwarten mußten, bis er wieder zuschlug – und das bedeutete nichts anderes, als daß dann wieder Menschen sterben würden –, machte ihn krank. »Ich verstehe das einfach nicht«, murmelte er. »Er muß vollkommen den Verstand verloren haben. So wie es aussieht, greift er wahllos Schiffe und Häfen an, ganz gleich welcher Nationalität. «