»Wir haben einen Verletzten an Bord«, antwortete Trautman. Während Mike das Boot vertäute, stand er auf und deutete auf die Gestalt zu seinen Füßen. Sie hatten den Verwundeten so dick in Decken und eine wasserdichte Plane gewickelt, daß nur noch sein Gesicht sichtbar war. »Gibt es hier einen Arzt?« »Doc Hanson«, antwortete einer der Männer. »Aber der wird jetzt noch schlafen, fürchte ich. Was ist passiert?« »Dann sollte jemand gehen und ihn wecken«, erwiderte Trautman. »Und möglichst schnell. Den Mann hat es wirklich schlimm erwischt. Für Erklärungen ist jetzt keine Zeit. «
Mike kam die ruppige Art, auf die Trautman die neugierigen Fragen der Männer abblockte, ein wenig gewagt vor – aber sie tat ihren Dienst. Einer der drei drehte sich auf der Stelle herum und hastete davon, während die beiden anderen Trautman dabei halfen, den Verletzten so behutsam wie möglich aus dem Boot zu heben. Auch Serena und Mike verließen das Boot, hielten sich aber ein wenig im Hintergrund. Serena hatte ein einfaches, grobes Kleid angezogen, und ihr schulterlanges blondes Haar verbarg sich unter einem schwarzen Tuch, das sie weit ins Gesicht gezogen hatte. Aber ihr Blick huschte sehr aufmerksam in die Runde, und obwohl sie sich bemühte, möglichst unbeteiligt dreinzusehen, konnte Mike ihre Aufregung fast körperlich fühlen.
Dabei stellte ihre Umgebung eigentlich eher eine Enttäuschung dar. Ein einziger Blick in die Runde hatte Mike klargemacht, warum Glengweddyn auf so gut wie keiner Karte zu finden war: Es war ein Kaff, das den NamenOrtnicht verdiente. Längs der aus groben Sandsteinblöcken errichteten Kaimauer drängelte sich ein gutes Dutzend Häuser, von denen keines jünger als hundert Jahre zu sein schien, und das war alles. Hinter dem grauen Nebel, der vom Meer heraufgekrochen war und nun auch den Ort einzuhüllen begann, konnte er einen schäbigen Kolonialwarenladen erkennen, dessen Läden noch geschlossen waren, daneben ein winziges Pub, und ansonsten nichts als gleichförmige, schäbige Häuser mit größtenteils ebenfalls noch geschlossenen Läden. Nirgendwo brannte ein Licht. Kein Wunder, dachte er, daß der Arzt noch schlief. Der ganze Ort schien noch zu schlafen.
Irgendwie hatte er das Bedürfnis, sich bei Serena zu entschuldigen. »Es sieht nicht überall so aus wie hier«, sagte er in fast verlegenem Tonfall. »Das hier ist ein sehr kleiner Ort, weißt du?«
»Ich finde es... interessant«, antwortete Serena. Offenbar
wollte sie höflich sein. »So etwas hat es bei uns nicht gegeben.
«
Ja,dachte Mike griesgrämig.Das glaube ich sofort.Er hatte bisher auch nicht gewußt, daß es so etwashiergab.
Aber wenn Glengweddyn auch zu den Orten gehören mochte, deren Namen größer waren als die dazugehörige Stadt, so hatte es doch eines mit den meisten Städten auf der Welt gemeinsam: Seine Bewohner waren nicht nur sehr hilfsbereit, sondern auch sehr neugierig. Es vergingen keine fünf Minuten, bis sich die Straße langsam zu füllen begann. Ein gutes Dutzend Menschen umlagerte Trautman und die beiden Männer, die den Verletzten trugen, und auch Mike und Serena sahen sich plötzlich im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich, dachte er, verirrt sich so selten ein Schiff in diesen Hafen, daß jeder Fremde hier eine kleine Sensation darstellt. Dann entdeckte er etwas, was ihn überraschte. Inmitten der kleinen Menschenmenge, die sie umlagerte, stand ein Mann. Er war ein gutes Stück größer als die meisten anderen, tadellos frisiert (auch das unterschied ihn von den struppigen und zum Großteil stoppelbärtigen Gestalten) und vor allem: Er trug nicht die übliche, grobe Arbeitskleidung,sondern eine dunkelblaue Marineuniform, auf deren Ärmeln goldene Offiziersstreifen blitzten. Er stand einfach da und blickte ihn an, und er tat es auf eine Art, die Mike nicht gefiel. Unauffällig versuchte er an Trautmans Seite zu gelangen und raunte ihm zu: »Sehen Sie nicht hin – aber da ist ein Offizier. «
Trautman sah natürlichdochhin, aber er tat es ganz bewußt so direkt, daß es als ganz normaler, neugieriger Blick in die Runde
durchgehen mochte. »Ich sehe ihn«, flüsterte er. »Und?«
»Das gefällt mir nicht«, antwortete Mike. »Er trägt die gleiche Uniform wie der Verletzte. Was macht ein Offizier der Royal Navy in einem Kaff wie diesem?« Trautman zuckte mit den Schultern – und dann tat er etwas, was Mike schier den Atem stocken ließ: Er wandte sich um und trat direkt auf den Offizier zu. »Sir!« sagte er. »Gut, daß ich Sie treffe. Sie können mir sicher weiterhelfen. Mein Name ist Trautman. Das da –« Er deutete auf Mike und Serena. »– sind meine Enkel, Mike und Sally. Wir haben diesen Mann heute nacht in einem Boot auf dem Meer treibend aufgefunden, und mir scheint, er gehört zur Navy. Er trug eine Uniform wie Ihre. Vielleicht vermissen Sie ihn schon?« Eine Sekunde lang spiegelte sich nichts als blankes Mißtrauen auf dem Gesicht des Offiziers. Aber dann trat er näher, warf einen flüchtigen Blick auf den Verletzten und schüttelte den Kopf. »Er muß von der HARRISON sein«, sagte er. »Nein, ich kenne ihn nicht. Aber ich weiß, woher er kommt. « Er sah auf, lächelte entschuldigend und salutierte nachlässig, als er sich wieder direkt an Trautman wandte. »Bitte entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit, Sir. Mein Name ist Stanley. Kapitän Mark Stanley von der HMS GRISSOM. Ich danke Ihnen im Namen Seiner Majestät, daß Sie den Mann gerettet haben. Was hat er für Verletzungen?«
Etwas an der Art, auf die er diese Frage stellte, gefiel Mike nicht, und Trautman mußte es wohl ganz ähnlich ergehen, denn er zögerte eine Winzigkeit, ehe er antwortete: »Ich verstehe nichts davon, Sir. Aber ich glaube, man hat auf ihn geschossen. « »Ja, das denke ich auch«, antwortete Stanley. »Er sieht nicht gut aus. Ein Wunder, daß er noch lebt. Wo bleibt dieser Arzt?« Er sah sich suchend um, dann rief er mit erhobener Stimme: »Sparks!« Es verging nur eine Sekunde, dann drängte sich ein Mann in der blauen Uniform der Kriegsmarine durch die Menge, deren Aufmerksamkeit sich mittlerweile völlig auf den Offizier und Trautman konzentriert hatte. Er war ebenso groß und tadellos gekleidet wie Stanley, hatteaber deutlich weniger Streifen auf dem Ärmel. Wahrscheinlich sein Adjutant, dachte Mike. Der Mann nahm vor Stanley Aufstellung und salutierte zackig. »Sir?«
»Hängen Sie sich ans Funkgerät«, antwortete Stanley. »Sie sollen den Arzt herschicken. Wir haben hier einen Verletzten. «
Sparks eilte mit Riesenschritten davon, und Stanley drehte sich wieder herum und sagte: »Nichts gegen den Arzt der guten Leute hier, aber ich denke, daß sich unser Doktor ein wenig besser auf die Behandlung von Schußverletzungen versteht. «
Wie auf ein Stichwort hin kam in diesem Moment der Mann zurück, den Trautman nach dem Arzt geschickt hatte. Er war nicht allein. In seiner Begleitung befand sich ein älterer Mann mit schütterem Haar, der noch einen Morgenmantel trug und vollkommen verschlafen wirkte. Trotzdem mußte er Stanleys Worte gehört haben, denn er spießte ihn mit Blicken regelrecht auf. Aber er enthielt sich jedes Kommentares, sondern beugte sich nur wortlos über den Verletzten und schüttelte den Kopf, als Trautman Anstalten machte, die Decke beiseite zu schlagen, in die er eingewickelt war. »Hier kann ich überhaupt nichts für ihn tun«, sagte er. »Bringt ihn in mein Haus. Aber vorsichtig. « Trautman und die beiden Männer, die ihm schon zuvor geholfen hatten, hoben den Verletzten behutsam auf und trugen ihn zu einem der schmalbrüstigen, alten Häuser. Es ging durch einen dunklen Korridor in ein kleines, auf einen Hinterhof hinausgehendes Zimmer, das, wie es schien, zugleich als Wartewie auch als Behandlungszimmer diente. Es gab eine Anzahl ungepolsterter Stühle, die sich an der Wand neben der Tür aufreihten, einen unordentlichen Schreibtisch und einige mit Medikamenten, Töpfen, Flaschen und allerlei ärztlichen Instrumenten vollgestopfte Schränke. In der Mitte des Raumes stand ein gewaltiger Tisch mit einer makellos polierten Metallplatte, auf die die beiden Männer den Verletzten legten. Mike hatte nie zuvor eine Arztpraxis wie diese gesehen. Was vielleicht daran lag, daß er nie zuvor bei einemArztwie diesem gewesen war...