Mikes Augen wurden groß, als er das über dem Schreibtisch hängende Diplom erblickte: Dr. vet. Marcus Hanson.
Hanson war kein Arzt. Jedenfalls keiner fürMenschen.Er warTierarzt.
»Äh... Trau –« begann er und verbesserte sich hastig. »Großvater?«
Trautman reagierte erst mit ungefähr einer Sekunde Verzögerung, was nicht nur Mike auffiel. Auch Stanley sah auf, und wieder erschien dieser sonderbare, halb nachdenkliche, halb mißtrauische Blick in seinen Augen. Er sagte nichts. »Ja?« fragte Trautman.
Mike deutete schweigend auf das Diplom, und auch Trautman wurde ein wenig blaß um die Nase. Offenbar verstand er jetzt, warum Stanley es plötzlich so eilig gehabt hatte, seinen Schiffsarzt hierherzubeordern. Aber auch Hanson war der kurze Zwischenfall nicht entgangen. Er hatte mittlerweile die Decke von der Schulter des Verletzten entfernt und die Wunde einer ersten flüchtigen Musterung unterzogen. Jetzt sah er eindeutig verärgert auf. »Falls es jemanden interessiert«, sagte er scharf, »ich habe in meinem Leben wahrscheinlich mehr Schußwunden behandelt, als Sie alle zusammen je gesehen haben. Die Leute hier in der Gegend sind ganz versessen darauf, auf streunende Hunde und Katzen zu schießen, und manchmal erwischen sie dabei auch die ihrer Nachbarn oder gleich die Nachbarn selbst. Ich kann es natürlich auch lassen und auf den Arzt vom Schiff warten. « Stanley schien die Verärgerung des Arztes äußerst amüsant zu finden. Er schüttelte lächelnd den Kopf und deutete eine Verbeugung an. »Es liegt mir fern, an Ihren Fähigkeiten zu zweifehl, Doc«, sagte er. »Bitte, tun Sie Ihre Arbeit. «
Hanson bedachte ihn mit einem weiteren, zorngeladenen Blick, aber dann beugte er sich wieder über den Verletzten. »Das ist eine ziemlich üble Schußwunde«, sagte er. »Aber sie ist ausgezeichnet versorgt worden. « Er sah auf und blickte Trautman an. »Haben Sie das getan?« »Das war Sally«, antwortete Trautman. »Sie hat sich um ihn gekümmert, so gut es ging. Wir sind einfache Fischer, wir haben keine Erfahrung in – « »Aber das war hervorragende Arbeit«, unterbrach ihn Hanson. »Besser hätte ich es auch nicht gekonnt. « Er wandte sich an Serena. »Du hast diesem Mann das Leben gerettet, weißt du das? Wieso kannst du so etwas?« Mike hielt instinktiv den Atem an, aber Serena erwies sich als ausgezeichnete Schauspielerin. Mit perfekt gemimter Verblüffung sah sie den Arzt an und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte sie und brachte es sogar fertig, einen kindlich naiven Ton in ihre Stimme zu zaubern. »Ich habe einfach getan, was mir richtig erschien. Habe ich etwas falsch gemacht?« »Um Gottes willen, nein!« sagte Hanson hastig. »Du hast eine Adernkompresse angelegt, die Wunde gesäubertund den Arm stillgelegt. Du mußt ein Naturtalent sein. Du solltest Ärztin werden, weißt du das?« Serena lächelte geschmeichelt, und Hanson wandte sich nach einem letzten, beinahe bewundernden Blick wieder seinem Patienten zu.
»Puh«, flüsterte Mike. »Das war knapp. Sag jetzt besser nichts mehr. «
Serena maß ihn mit einem vollkommen verständnislosen Blick. Als Hanson nach einem Skalpell griff, sog sie scharf die Luft ein.
»Was hat er mit dem Messer vor?« keuchte sie – so laut, daß alle im Raum die Worte hören mußten. »Keine Angst, junge Dame«, sagte Hanson lächelnd. »Ich tue deinem Patienten nichts. Ich muß nur die Wunde ein wenig aufschneiden, damit der Eiter abfließen kann. Ich bin sicher, er merkt es nicht einmal. « »Aber man schneidet doch einen Menschen, der krank ist, nicht auf!« sagte Serena entsetzt. »Das ist barbarisch! Da, wo ich herkomme –«
»Wo kommst du denn her?« fragte Stanley in so beiläufigem Ton, daß Serena um ein Haar geantwortet hätte. Aber Trautman war schneller. »Aus Wilshire, Käpt'n Stanley. « Stanley maß ihn mit einem nachdenklichen Blick. »Wilshire, so«, sagte er. »Das
kenne ich. Aber das liegt nicht unbedingt am Meer. «
»Die beiden sind nur zu Besuch auf meinem Schiff«, antwortete Trautman nervös. »Mein Sohn und meine Schwiegertochter haben mit der Seefahrerei nichts am Hut. Aber die beiden haben sich gewünscht, einmal ein paar Wochen mit mir auf Fischfang zu gehen, und in diesem Jahr haben ihre Eltern es zum ersten Mal erlaubt. «
»Mitten im Schuljahr?« fragte Stanley. Er schüttelte den Kopf. »Nun, es geht mich nichts an, aber ich finde es nicht sehr verantwortungsbewußt von Ihnen, mit zwei Kindern an Bord in einem Kriegsgebiet zu kreuzen, Kapitän Trautman. «
»Wir haben vom Krieg bisher nicht viel bemerkt«, sagte Mike. »Ich schätze, die Navy hat uns gut beschützt. « Stanley lächelte, aber Mike war nicht ganz sicher, ob das nicht nur als Anerkennung für seine Schlagfertigkeit gemeint war. Er hatte das Gefühl, daß der Mann ihm kein Wort glaubte. »Wie heißt denn euer Schiff?« fragte Stanley. »Es ist die NAUT –«, begann Mike, biß sich auf die Unterlippe und verbesserte sich hastig: »Die NAUTIC STAR. Aber eigentlich ist es gar kein richtiges Schiff. Nur ein kleiner Kutter. «
»Soso. « Stanley nickte. »Und ihr fischt damit hier vor der Küste. Eigentlich hättet ihr mein Schiff sehen müssen. Die GRISSOM kreuzt draußen vor der Küste, nur ein paar Meilen entfernt. « Er wandte sich an Trautman. »Sind Sie aus östlicher Richtung gekommen?« »Aus Westen«, antwortete Trautman, und Stanley schüttelte abermals den Kopf.
»Seltsam. Sie hätten der GRISSOM genau vor den Bug laufen müssen. Sie ist kaum zu übersehen, wissen Sie. « »Vielleicht...
vielleicht liegt es am Nebel«, sagte Trautman. »Er war wirklich schlimm. Man konnte sozusagen die Hand vor den Augen nicht sehen. « Er lachte unecht. »Ich hoffe, wir finden unser Schiff überhaupt wieder. Es liegt draußen vor Anker. Ich wollte nicht damit in den Hafen einlaufen. Die NAUTIC STAR ist nicht groß, aber sie hat einen ziemlichen Tiefgang. « »Selbstverständlich werde ich Sie und Ihre Enkel zu Ihrem Schiff zurückbringen lassen«, sagte Stanley. »Aber vorher müssen Sie mir die Ehre erweisen, mich auf die GRISSOM zu begleiten und dort mit mir zu essen. Das ist das mindeste, was ich Ihnen als Dank schulde. Immerhin haben Sie einem Matrosen der Royal Navy das Leben gerettet. Und ihr beiden –« Er drehte sich zu Mike und Serena um und lächelte noch breiter. »– möchtet doch bestimmt einmal ein richtiges Kriegsschiff aus der Nähe sehen, oder?« »Ich fürchte, dazu haben wir keine Zeit«, sagte Trautman rasch. »Wir müssen weiter. Wir haben eine Verabredung, die wir einhalten müssen. Wir haben schon viel zuviel Zeit verloren. Man wird in Sorge sein, wenn wir nicht pünktlich kommen. Sie haben es ja selbst gesagt – die Gegend hier ist nicht besonders sicher. « »Ich kann Sie mit der GRISSOM ein Stück begleiten«, sagte Stanley.