»Wir sind sicher noch zu weit weg«, murmelte der Spielmann halblaut. »Wir müssen näher an die Insel kommen. Dann versuche ich es noch einmal.« Erneut stocherte er mit der Lanze im dunklen Wasser herum, dann verließ er den Weg.
Golo zögerte. Leise betete er zur Jungfrau Maria und folgte dem Ritter.
Volker wußte mittlerweile nicht mehr, in welche Richtung sie gingen. Ein Dutzend Mal oder noch öfter hatten sie Umwege machen müssen, um Schlammlöchern auszuweichen. Eine Orientierung war unmöglich. Der Himmel war von dunklen Wolken verhangen, und nicht einmal der Mond war noch zu sehen. Sie bewegten sich durch absolute Finsternis! Der Spielmann war sich inzwischen sicher, daß sie innerhalb der nächsten Stunden den Tod finden würden. Es gab kein Entkommen aus dieser Falle, in die sie Jean geschickt hatte. Er hätte den Bauern besser behandeln sollen!
Fast wie Hände griff der weiche Schlamm nach Volkers Füßen. Er stand knietief im Wasser, und mit jedem Schritt fiel es ihm schwerer, sich der kalten Umklammerung des Moors zu erwehren.
Noch einmal setzte er das Horn an die Lippen und blies sein Signal, doch glaubte er nicht mehr daran, daß sie gerettet würden. Vielleicht hatte er sich das Licht auf der Insel auch nur eingebildet, oder sie gingen längst in eine falsche Richtung und entfernten sich mit jedem Schritt weiter von sicherem Grund.
Hinter ihm ertönte ein Schrei. Erschrocken fuhr er herum. Golo steckte bis weit über die Hüften im Schlamm. Mit rudernden Bewegungen versuchte er sich zu befreien. Volker schien es, als würde der Knecht mit jedem Atemzug ein Stück weiter versinken.
»Halt dich fest.« Er reichte ihm das stumpfe Ende der Lanze. »Ich zieh’ dich heraus. Keine Sorge!«
Ein breiter Streifen goldenen Lichts fiel auf das Wasser. »Geh zwei Schritt zur Seite, Ritter. Auch du stehst nicht auf sicherem Grund. Und sag deinem Freund, er soll sich ganz still verhalten, sonst wird er nur um so schneller versinken.« Volker blickte über seine Schulter. Keine zehn Schritt hinter ihm stand eine hochgewachsene, schlanke Frau vor einer Tür aus verwittertem, grauen Stein.
Der Ritter tat wie ihm geheißen, und tatsächlich war der Boden, auf dem er nun stand, so fest wie gewachsener Fels. »Hast du gehört, Golo? Zapple nicht wie ein Fisch auf dem Trockenen!«
»Ihr habt gut reden!« fluchte der Knecht. »Ich möchte Euch einmal sehen, wenn Ihr das Gefühl habt, tausend kleine Teufel ziehen an Euren Füßen.«
»Nur mit der Ruhe, gleich bist du da heraus.« Der Ritter zog nach Leibeskräften an der Lanze, doch schien sich Golo keinen Zoll bewegt zu haben. Die steifgefrorenen Finger des Knechtes fanden keinen richtigen Halt am glatten Schaft der Lanze.
»Ich werde ein Seil holen«, rief die Frau auf der Insel und verschwand in der Finsternis.
»Bei allen Heiligen, ich schwöre, daß ich nie wieder fluchen oder einen Schluck Branntwein anrühren werde. Ich will auch nicht mehr lügen und...«
»Hör endlich auf, so herumzustrampeln, du Trottel!« fluchte Volker. »Dann werden die Heiligen dich vielleicht auch erhören!«
»Das Seil, Herr Ritter.« Wie ein Geist stand die Frau vom Ufer plötzlich hinter Volker. Einen Atemzug lang starrte er sie wie gebannt an. Sie war nicht sehr groß und ungewöhnlich blaß. Langes braunes Haar fiel ihr in Locken bis zu den Schultern hinab. »Macht es am Sattel Eures Hengstes fest. Nur er wird die Kraft haben, Euren Diener aus dem Sumpf zu holen.«
Der Krieger nickte stumm. Er knüpfte eine Schlinge in das Seil und warf es Golo zu. »Schling dir das um den Leib! Dann kannst du weiterbeten.«
Der Spielmann ging zu seinem Schlachtroß und strich dem Tier beruhigend über die Nüstern. »Nur ein kleines Stück noch, Lanzenbrecher, dann sind wir wieder auf festem Boden, und ich werde dich trockenreiben. Leg dich ins Zeug, mein Starker. Ich weiß, daß du es schaffen wirst.« Volker schlang das Seil um das Sattelhorn und nahm die Zügel des Pferdes. »Komm jetzt!«
Die Muskeln des großen Hengstes spannten sich. Leise knirschte das Sattelzeug. Wasser perlte vom gestrafften Seil. Der Knecht stöhnte. »Das Seil drückt mir die Luft ab.«
»Komm schon, Lanzenbrecher!« Volker griff jetzt auch nach dem Seil und zog nach Leibeskräften.
Golo stieß einen schrillen Schrei aus. »Etwas hat nach meinem Fuß gegriffen! Eine Klauenhand! Heilige Jungfrau Maria, hilf. Die Teufel sind gekommen, um mich in das Reich Luzifers zu zerren.«
»Vorwärts, Lanzenbrecher!« Volker gab dem Hengst einen Klaps auf die Hinterhand. Wiehernd bäumte er sich auf. Seine Hufe ließen das faulige Wasser aufspritzen. Es gab einen Ruck im Seil, und Golo war frei.
»Die Hand! Sieh nur her! Er hat die Hand abgerissen!« schrie der Knecht hysterisch und deutete auf seinen rechten Fuß. Etwas Dunkles, Armlanges hing daran.
Volker schlug ein Kreuz und kniete nieder. Dann lachte er laut auf. »Deine Hand ist nichts weiter als eine vermoderte Astgabel, an der du hängengeblieben bist.«
Golo starrte ungläubig auf das schwarze Holz. »Das kann nicht sein. Ich habe genau gefühlt, wie es zugegriffen hat. Das ist Zauberwerk der Feen! Ich bin mir sicher, daß es eine Hand war. Es hat sich in dem Augenblick verwandelt, in dem Ihr danach gegriffen habt, Herr.«
Volker lachte. »Hol dein Pferd und das Packtier. Wir sind gerettet.« Der Spielmann erhob sich und strich sich etwas verlegen über seine schmutzige Hose. In bester höfischer Manier verbeugte er sich vor seiner Retterin. Sie trug ein schlichtes, graues Leinenkleid, das am Saum mit zwei grünen Flicken ausgebessert war. »Meine Dame, ich weiß nicht, wie ich Euch danken kann. Ohne Eure Hilfe wären mein Knecht und ich sicherlich im Sumpf zugrunde gegangen. Ich schulde Euch mein Leben.«
Die Frau nickte. »Was Eure Schuld angeht, Herr Ritter, so wüßte ich sehr wohl, wie Ihr sie abtragen könntet. Überlaßt mir das Packpferd.«
Der Spielmann schluckte. Mit derart unbescheidener Gier hätte er nicht gerechnet. Er musterte die Frau. Ihr Gesicht war schmal, die Lippen zusammengepreßt. Sie hielt seinem Blick stand. Ihre großen, graugrünen Augen wirkten freundlich. Ihre ganze Erscheinung stand in krassem Gegensatz zu dieser maßlosen Forderung. Volker hatte gehofft, seine Schuld mit ein wenig charmanter Plauderei und ein paar Liedern vorm Kaminfeuer begleichen zu können.
»Wir haben den Geistern der Sümpfe ein Leben gestohlen«, erklärte sie leise. »Wir müssen ihnen dafür ein anderes zurückgeben, oder sie werden beim nächsten Mal die Schuld doppelt und dreifach eintreiben.«
»Was sagt Euer Pfaffe zu solch Götzendienst?«
»Ich beuge mein Haupt nicht vor den Priestern des Zimmermannssohns. Über ihn gibt es nur Worte. Die alten Götter aber kann ich spüren. Sie sind um mich herum, in den Bäumen und im Wind. Einmal bin ich im Sumpf sogar der Morrigan begegnet. Diese Götter sind mehr als nur Geschwätz. Genauso wie die Geister des Sumpfes.«
»Wohlan denn, meine Dame. Ich bin Ritter, und ich stehe zu meinem Wort. Ihr mögt das Packpferd haben. Wieviel haben wir zu zahlen, wenn Ihr uns für eine Nacht Unterschlupf gewährt? Wir müssen unsere Kleider trocknen und...«
»Ihr habt nichts begriffen! Ich will das Pferd nicht für mich. Der Sumpf fordert es! Die Gesetze der Gastfreundschaft verbieten mir, für ein Nachtquartier eine Belohnung zu verlangen, und Euer Angebot beleidigt mich, Edelmann!«
»Könnten wir darüber vielleicht vor dem Feuer in Eurer Hütte weiterreden«, mischte sich Golo ein und rieb sich zitternd die Arme. »Ich bin naß wie ein Fisch und obendrein halb verhungert.«
Die junge Frau deutete zur Tür. »Entschuldigt, es war unhöflich, Euch nicht hereinzubitten.«
»Ich werde erst die Pferde absatteln und trockenreiben. Dann mögt Ihr den Lohn für Eure freundliche Hilfe erhalten«, entgegnete Volker kühl.
»Habt Dank, Herr Ritter, aber es ist Eure Aufgabe, das Pferd in den Sumpf zu treiben. Nicht ich bin in Gefahr, sondern Ihr. Behaltet das Tier und fordert Euer Schicksal heraus. Mir ist gleich, was Ihr tut.« Ihre Retterin drehte sich um und verschwand durch die niedrige Tür.