Ihre Gastgeberin hatte sich inzwischen wieder an den Tisch gesetzt. »Du willst also in das Land der Feen reisen, Ritter. Heute hast du lernen müssen, daß der Weg durch den Sumpf dir nur den Tod bringen wird. Versuchst du es ein zweites Mal, so werdet ihr beide gewiß sterben.« Niamh begleitete ihre Worte mit einer Melodie, die wie das Wispern des Windes in den Weiden klang. »Wenn du zur Morrigan gelangen willst, so mußt du den Weg des Königs beschreiten. Einen halben Tagesritt von hier gibt es eine Stelle, wo ein Wald aus dichten Eichen steht. Ganz am Ende des schmalen Pfades, der durch den Wald führt, findest du einen Kreis aus Pfählen. Dort stecken die Köpfe jener, die es nicht wert waren, zum König der Feen zu werden. Es sind viele Ritter! Solange man hier in den Sümpfen zurückdenken kann, ist noch jeder gescheitert, der diesen Weg eingeschlagen hat.
Von einer Eiche dicht am Wasserhängen die Waffen der Toten herab. Dort findest du ein Horn, in das du dreimal stoßen mußt. Dies ist das Zeichen dafür, daß einer gekommen ist, den Kämpfer der Morrigan zu fordern. Wann immer das Horn geblasen wird, beginnt es zu stürmen! Schlagartig verfinstert sich der Himmel, und dichter Nebel wird aus dem Sumpf steigen. Wenn das Ungewitter vorüberzieht, erheben sich die Feen aus den Sümpfen. Du mußt den Streiter der Hohen Königin bezwingen. Gelingt dir dies, so wirst du ihr Gemahl und damit zum Herrscher in den Sümpfen. Doch solange die Menschen zurückdenken können, hat niemand den auserwählten Krieger bezwingen können.
Man sagt, die Kraft der alten Götter fließe durch seine Adern. So ist dieser Weg letztlich genauso tödlich wie ein Ritt in den Sumpf hinein. Wenn du klug bist, Ritter, dann opfere morgen dein Packpferd und kehre zu den Deinen zurück. Du hast bereits bewiesen, daß es dir nicht an Mut fehlt. Verschenke dein Leben nicht bei einer so sinnlosen Suche.«
Volker hatte Niamhs Worten gebannt gelauscht. »Deine Sorge um mich berührt mein Herz, Niamh. Doch werden mich all deine Worte nicht daran hindern, meinen Weg zu gehen. Ich habe geschworen, die Nichte meines Königs zu retten, und ich habe noch niemals meinen Eid gebrochen. Gibt es vielleicht nicht noch eine andere Möglichkeit, in das Reich der Feen zu gelangen?«
Niamh lächelte traurig. »Du hast also beschlossen zu sterben, Ritter. Und dein Diener, wirst du ihn mit dir in den Tod nehmen?«
Volker blickte zu Golo. Der Knecht war wieder eingeschlafen. Es stimmte, er hatte kein Recht, von ihm zu verlangen, daß er mit ihm ging. Golo war fast noch ein Knabe. Er würde ihn fortschicken, bevor sie den Eichenhain erreichten. »Du hast meine Frage nicht beantwortet, schöne Bardin. Gibt es noch einen dritten Weg in das Feenreich?«
»Die Wege in die Andere Welt sind so zahlreich und verschlungen wie die Flüsse und Bäche, die dem Meer entgegenstreben. Man sagt, es gibt Orte, von denen man mit nur einem einzigen Schritt in die Paläste der Feen gelangen kann. Doch ich kenne keines dieser verwunschenen Tore, und selbst wenn ich eines wüßte, würde dir das nicht weiterhelfen, denn man sagt, daß ein Sterblicher diese Pforten nur dann passieren kann, wenn die Unsterblichen es wünschen.«
Volker füllte seinen Becher noch einmal mit Met. Der Kopf wurde ihm schwer von dem Honigwein, und die beschwerliche Reise durch den Sumpf hatte an seinen Kräften gezehrt, doch noch kämpfte er gegen die Müdigkeit an. »Wer ist diese Macha, von der die Bauern und Fischer erzählen?«
Niamhs Finger strichen wieder über die Harfensaiten. Diesmal klang die Melodie wild und kriegerisch. »Morrigan hat drei Schwestern, von denen eine jede große Zauberkraft besitzt. Macha ist die älteste der drei. Sie gilt als die Herrin der Schlachtfelder und liebt den Krieg. Ihr zu Ehren errichten die Feenkrieger jene Pfahlkreise, die du schon gesehen hast, Ritter. Man nennt sie auch die Masten der Macha. Zur Nacht verwandelt sie sich in einen Raben und kommt, um von dem Fleisch der Toten zu fressen. Bei Tage hat sie die Gestalt einer hochgewachsenen, schönen Frau mit langem schwarzen Haar. Sie trägt einen Umhang, der aus Hunderten von Rabenfedern gefertigt ist. Manchmal schreitet sie durch die Reihen ihrer Krieger, wenn die Feen für sie kämpfen, und sie gibt den Wankelmütigen neues Vertrauen.«
Heulend pfiff der Wind über das Moor und rüttelte mit seinen eisigen Fingern an der Tür der kleinen Hütte. Volker zog den Pelz, den ihm Niamh geliehen hatte, ein wenig enger um seine Schultern und rückte etwas näher an das Feuer.
»Die zweite der Schwestern wird Babd genannt. Sie hat die Gestalt einer Riesin und trägt ein weißes Gewand. Ihr Haar ist rotgolden, so wie ein Sonnenaufgang. Es heißt, daß jene, die sterben werden, sie am Morgen vor ihrer letzten Schlacht als Wäscherin sehen, die blutige Gewänder in die Fluten eines kristallklaren Flusses taucht. Sie ist die Künderin des Unheils. Von Neman, der dritten der Schwestern, berichten die Alten, sie sei unbeständig wie der Wind. Sie wurde aus den Schreien der Sterbenden und der Klage von Witwen und Waisen geboren. Mutter der Trauer wird sie genannt, und sie ist eine Dichterin. Ihr Klagegesang weist die Geister der Toten zu ihrer endgültigen Heimstatt, und wenn die Raben über den Schlachtfeldern krächzen, dann ist auch Nemans Stimme zu hören.«
Volker war gegen die Wand gesunken. Niamhs Stimme und das leise Flüstern ihrer Harfe woben ihm ein Schlaflied, und bald träumte er von einem raucherfüllten Himmel über einem brennenden Hügel. Weit im Westen stand eine blaßrote Sonne nur eine Handbreit über dem Horizont, und von dort kamen drei große Raben auf ihn zugeflogen.
Golo spürte, daß ihm irgend jemand folgte. Er war in einem Wald, und dichte Nebelschwaden trieben zwischen den mächtigen, schwarzen Baumstämmen. In der Ferne ertönte leise Harfenmusik. Er wußte nicht genau, wie er an diesen Ort gekommen war. Das letzte, woran er sich deutlich erinnern konnte, war, wie Niamh sie aus dem Sumpf gerettet hatte.
Ganz in der Nähe knackte ein dürrer Ast. Gehetzt blickte der Knecht sich um. Nichts! Doch in dem Nebel würde er nicht einmal auf fünf Schritt einen ausgewachsenen Drachen erkennen.
Es war gewiß klüger, nicht allzu lange an einem Ort zu verweilen. Was immer ihn auch verfolgte, es durfte ihn auf gar keinen Fall einholen! Dem Sumpf war er entronnen, doch er ahnte, daß im Nebel noch eine ungleich tödlichere Bedrohung lauerte. Warum war Volker nicht bei ihm? Für einen Augenblick war er versucht, den Namen des Ritters zu rufen, doch damit würde er nur seine Verfolger auf sich aufmerksam machen. Er mußte auf sich allein gestellt entkommen!
Etwas raschelte im Unterholz. Golo begann zu laufen. Mit einem Sprung setzte er über einen gestürzten Baumstamm hinweg. Dahinter schien ein Wildpfad zu beginnen. Oder wichen die Büsche vor ihm zurück...
Er rannte, bis jeder Atemzug wie Messer in seine Kehle stach. Sein Weg war von hohen Dornenranken gesäumt. Einmal glaubte er, zwischen den Büschen ein Kind gesehen zu haben. Doch als er kurz verharrte, um genauer hinzuschauen, waren dort nur noch tanzende Nebelschwaden. Golo hatte jetzt das Gefühl, daß sein Herz so laut wie eine Trommel schlug.
Hinter dem Dornengestrüpp ertönte leises Kichern. Waren das die Feen? Trieben sie ihren Schabernack mit ihm? Oder verfolgten ihn irgendwelche anderen Waldgeister?
Vor ihm lichtete sich der Nebel. In einer weiten Spirale waren Pfähle aufgestellt, auf denen Hunderte von Schädeln steckten. Erschrocken wich er zurück.
»Du wirst deinem Schicksal nicht entkommen, Fremder!« ertönte eine Frauenstimme hinter ihm. Der Hohlweg zwischen den Dornenranken war verschwunden. Statt dessen stand dort eine riesige Eiche, hinter der sich eine nebelverhangene Sumpflandschaft erstreckte. Aus der Rinde des Baums heraus löste sich eine Gestalt! Eine Frau in braunem Kapuzenmantel mit einem prächtigen Schwert in der Hand. Sie breitete die Arme aus und blickte zum Geäst der Eiche hinauf. »Sieh die Trophäen meiner Siege. Schon morgen wird ein neues Schwert von diesen Ästen hängen.«