»Habt Ihr das gehört?«
Volker blinzelte verschlafen. »Wovon sprecht Ihr, Liebste?«
»Da war ein Heulen, so als streiche ein halb verhungerter, alter Wolf um die Mauern der Burg.«
»Ein Wolf? So nah bei der Stadt hat sich im ganzen Winter noch kein Wolf blicken lassen. Vielleicht war es einer der Jagdhunde und...« Jetzt hörte auch der Spielmann das klägliche Geheul.
Amalasfrida richtete sich auf ihrem Lager auf. »Klingt irgendwie merkwürdig. Es scheint recht nahe zu sein. Fast, als wäre der Wolf schon innerhalb der Burgmauern.«
Volker schluckte. Sollte das etwa... Er warf die schwere Wolldecke zur Seite und griff nach seinen Beinkleidern.
»Was habt Ihr, Herr Volker?«
»Ich muß hinunter, nach dem Rechten sehen. Manchmal streift Königin Ute noch zu später Stunde durch den Kräutergarten. Wenn wirklich ein Wolf innerhalb der Mauern herumläuft, ist sie vielleicht in Gefahr...«
»Ein Weib, das sich von einem Wolf reißen läßt, hat nicht den Titel Königin verdient!« Sie lächelte. »Ich habe selbst einmal einen erlegt... mit einer Saufeder.«
Volker streifte seine Tunika über, griff nach dem Gürtel und nach seinem roten Wollumhang. »Nun, unsere Königin spaziert nur selten durch ihren Kräutergarten...« Mit einem Schritt war er beim Fenster und spähte in die Finsternis. Zwischen den Büschen war niemand zu sehen. Ein Geräusch ertönte an der Tür. Volker drückte das Licht der Kerze aus.
Eine riesige Gestalt beugte sich unter dem niedrigen Türsturz. »Ich sehne mich nach deinen Krallen, meine kleine Wildkatze, und... Bei Wotan! Wer steht da am Fenster?«
Volker machte einen Satz in die Tiefe. Er haßte es, wenn ein kultivierter Abend ein solches Ende nahm. Barbarenpack! Federnd landete er auf dem hartgefrorenen Boden und fluchte. Er hatte seine Stiefel oben vergessen! Geduckt rannte der Spielmann zwischen den Büschen hindurch in Richtung der Stallungen.
Golo hatte sich auf dem Heuboden über den Pferdeställen verkrochen. Hier fühlte er sich dem Sommer näher. Es duftete nach Erntedankfest und Pferdemist. In eine alte Decke gewickelt, hatte er sich ein Nest gebaut wie die Vögel in den Bäumen. Es war sicher schön, ein Vogel zu sein. Frei durch die Lüfte zu ziehen und keinen Herren zu haben, der einen dauernd mit allem möglichen Unsinn drangsalierte. Golo wußte nicht, wohin die Vögel im Herbst flogen, aber er war sich sicher, daß sie einen besseren Platz gefunden hatten als das verschneite Worms.
»Wir sollten einmal über Käuzchenrufe reden, mein Freund!«
Golo lugte über den Rand seines Heunestes hinweg. Wie hatte Volker ihn hier oben finden können? »Ich, ähm... Ich habe noch zugesehen, wie Ihr ihnen glücklich entkommen seid, Herr. Hattet Ihr einen schönen Abend bei der Dame?«
»Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich denken, du willst mich foppen, Kerl! Mach Platz! Ich kriech’ bei dir unter. Die Sachsen rennen immer noch wie aufgescheuchte Hühner durch den Burghof und suchen nach einem Flüchtling ohne Schuhe.«
»Ohne Schuhe?« Golos Blick fiel auf Volkers nackte Füße. »Das muß ja gräßlich kalt sein.«
Statt zu antworten, bedachte der Spielmann ihn mit einem bösen Blick. »Warum hast du nicht das vereinbarte Signal gegeben? Wolltest du mitansehen, wie sich dein Herr auf einem Sachsenschwert macht? Hab’ ich dich vielleicht nicht immer gut behandelt? Welcher Diener bekommt von seinem Herren schon einmal ein ganzes Huhn geschenkt und...«
»Ich möchte nicht widersprechen, aber das mit dem Huhn war auf dem letzten Osterfest. Es ist schon fast ein Jahr her und...«
»Unterbrich mich nicht!« Volker packte ihn beim Wams. Für einen Spielmann war er recht stark, und wenn er nicht gerade mit Damen zu tun hatte, konnte er obendrein noch recht rüpelhafte Manieren an den Tag legen. Er sah zwar gut aus mit seinem langen, blonden Haar und den blauen Augen, doch wenn er schlechte Laune hatte, dann konnte man ihn eher für einen Halsabschneider als für einen Dichter halten, dem die Damen zu Füßen liegen. Golo hatte ohnehin nie begriffen, was man an den verdrehten Wortspielen finden konnte, mit denen sein Herr die Herzen aller Weiber eroberte.
»Warum hast du mich da oben ins Messer laufen lassen?« grollte Volker finster. »Was sollte dieses klägliche Wolfsgeheul?«
»Ich... Mir war plötzlich der Mund so trocken, als ich diese Sachsen gesehen hab’, und ich... ich konnte einfach keinen Käuzchenschrei nachmachen. Ich wußte nicht...« Volker stieß ihn ins Heu und hob drohend die Fäuste.
»Ich will die Wahrheit! Das gibt es doch gar nicht, daß du keine Vogelstimmen nachahmen kannst. Willst du mir etwa erzählen, du wärst nicht als kleiner Junge mit deinen Freunden in den Wald gelaufen, um dort allerlei Schabernack zu treiben? So etwas lernt man doch nebenbei, genauso wie reiten und...«
»Erinnert Ihr Euch noch an den Tag, an dem ich zum ersten Mal auf Eurem Pferd gesessen habe, Herr?«
Volker grinste breit und setzte sich neben ihm ins Heu. »Natürlich! War ein toller Spaß zuzusehen, wie Lanzenbrecher dich in den Schlamm geworfen hat.«
»Hmm... stimmt. Mein Hintern erinnert sich noch heute an diesen tollen Spaß. Ich bin damals im Schlamm gelandet, weil ich noch nie auf einem Pferd gesessen hatte. Vielleicht erinnert Ihr Euch noch, Herr, ich bin der Sohn eines armen Bauern! Im ganzen Dorf hat es kein Pferd gegeben. Ich habe nie reiten gelernt, bis Ihr es mir beigebracht habt. Und ich bin auch nicht mit Freunden durch den Wald getollt. Ich habe Gänse gehütet, Pilze und Reisig gesucht, meinem Vater bei der Ernte oder beim Pflügen geholfen und...«
»Mir kommen die Tränen, Golo.« Volker kratzte sich am Kinn. Eine Zeitlang saßen sie einander schweigend gegenüber. Golo überlegte, ob er vielleicht etwas Falsches gesagt hatte. Dieses Schweigen beunruhigte ihn. Es wäre besser, wenn Volker fluchte und tobte. Schlechtgelaunte Adlige und Kirchenmänner, das war etwas, was er von Kindesbeinen an kannte. Aber ein Ritter, der einfach nur dasaß und einen anstarrte... Das war unheimlich. Ob der Spielmann wohl darüber nachdachte, ihn anzuklagen? Golo schluckte. Das war Unsinn! Volker konnte es nicht riskieren, über diese Angelegenheit öffentlich zu reden. Wenn ruchbar wurde, wer das Lager mit der Sachsenfürstin geteilt hatte, dann...
»Vielleicht habe ich dir Unrecht getan. Ich werde bei Gelegenheit darüber nachdenken. Auf jeden Fall werde ich dich den Ruf des Käuzchens lehren. Du bist als Knecht für mich völlig unbrauchbar, wenn du nicht einmal solche einfachen Kleinigkeiten erledigen kannst. Ich meine, es wird noch öfter geschehen, daß ich einer Dame meine Aufwartung mache, und möglicherweise wird es auch wieder vorkommen, daß du darauf achten mußt, wann der betreffende Ehemann zurückkehrt. Und noch etwas! Falls du es wieder mal vermasseln solltest... Versuche bitte nicht, einen Wolf nachzuahmen! Das war das jämmerlichste Wolfsgeheul, das ich jemals gehört habe. Ich hab’ schon drei Tage alte Hundewelpen gesehen, die bedrohlicher knurren konnten, als du das Geheul eines Wolfes nachmachst.«
»Aber ich...«
»Man widerspricht seinem Herren nicht, Knecht! Und man fällt ihm auch nicht ins Wort. Im übrigen denke ich, daß ich davon absehen werde, dir das Fell zu gerben. Ich hätte eben mit deiner Dummheit rechnen müssen. Das war mein Fehler.«
Golo blickte zu Boden. So kannte er sie, die Adligen! Es war besser, darauf nicht zu antworten. Bis heute abend hatte er sich gefreut, in Volker einen Herren zu haben, für den er nicht allzuviel tun mußte... Manchmal hatte der Dienst bei ihm sogar Spaß gemacht. Es war im letzten Winter gewesen, als Volker in Golos Heimatdorf geritten kam, das zum Lehen der Herren von Alzey gehörte. Er hatte sich die jungen Männer angesehen und schließlich ihn ausgewählt, mit auf die Königsburg nach Worms zu kommen. Er sollte sein Diener und Waffenknecht werden. Er bekam eine Stute und täglich eine Stunde Unterricht im Schwertkampf. Davon abgesehen mußte er sich um die Pferde kümmern und dafür Sorge tragen, daß die Kleider seines Herren immer in einem guten Zustand waren. Verglichen mit der harten Feldarbeit im Dorf war das eine Kleinigkeit. Das einzige, was Golo beunruhigte, war die Tatsache, daß es Volker offensichtlich unmöglich war zu akzeptieren, daß schöne Frauen gelegentlich bereits verheiratet waren. Wenn es um Weiber ging, kannte der Spielmann keine Scham. Ein paar Tage war es erst her, daß Volker ihm voller Stolz erzählt hatte, daß es ihm sogar schon einmal gelungen sei, eine Äbtissin zu verführen. Mochte der liebe Herrgott seiner Seele gnädig sein!