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»Vorsicht, Ernst!« flüsterte er. »Vielleicht ist er da oben und beobachtet uns. Der Kerl ist doch im Stande und knallt uns kaltblütig über den Haufen.«

Herzog drehte sich nur kurz um, schüttelte entschieden den Kopf und lief weiter.

Nach kurzer Überlegung wußte Axt, warum Herzog sich so sicher war. Die Fallen, die schon seit Wochen nicht mehr geleert worden waren, die Gazehauben, die von Wind und Wetter zerfetzt und in der Feuchtigkeit verrottet waren, der Dschungel, der die vernichteten Wiesen zurückzuerobern begann, die verwesten, skelettierten, von dicken Schimmelpolstern überzogenen und von Kräutern überwachsenen Tierkadaver, all das deutete darauf hin, daß schon lange niemand mehr hier gewesen war. Vielleicht hatte er die Lust verloren, trieb sein Unwesen jetzt in einem anderen Gebiet. Oder ...

Nein, Axt konnte und wollte noch immer nicht glauben, daß wirklich Ellen, diese schöne junge Frau, dafür verantwortlich sein sollte. Er war ihr zwar nur flüchtig begegnet, aber sie entsprach in keiner Weise dem Bild, das er sich von dieser unbekannten Person gemacht hatte. Es wollte einfach nicht in seinen Kopf, warum sie so etwas tun sollte.

Die Höhle war tatsächlich verlassen, aber sie war zweifellos der Unterschlupf der Person, die sie suchten. Da lagen Reste des Gazestoffes herum, aus dem die Hauben bestanden, und neben Säcken, Pappkartons und Plastikkanistern mit Unkraut-und Insektenvertilgungsmitteln, Wasser und Petroleum stand ein altes Sprühgerät, wie Winzer und Obstbauern es benutzten, um ihre Pflanzenschutzmittel auszubringen. Es gab auch ein paar Käfige, in denen tote Grillen und Marienkäfer herumlagen, kleine Säckchen mit verschiedenen Pflanzensamen. Sollten die hier etwa ausgesät, die Tiere freigelassen werden, war das womöglich schon geschehen? Axt bekam eine Gänsehaut. Herzog hatte recht gehabt, dieser Mensch war gemeingefährlich. Machte er sich denn keinerlei Gedanken, was er mit solchen Experimenten anrichten konnte?

In einer versteckten Felsnische im hinteren Teil der Höhle fanden sie zwei Gegenstände von in sehr unterschiedlicher Weise erschütternder Wirkung. Der eine war ein kleiner Holzkasten, in dem sich neben sieben leeren Fächern noch drei Handgranaten befanden, der andere ein dicker, in Plastikfolie eingewickelter Stapel Papier, die Aufzeichnungen ihres Unbekannten, der minutiöse Bericht über die Taten der Ellen Hartmann. Axt war fassungslos.

Er setzte sich vor den Höhleneingang, von wo man einen herrlichen Blick über die Kronenregion der Urwaldbäume hatte, und blätterte mit wachsendem Entsetzen in den Papieren. Ellen hatte hier in einer kleinen, pedantischen Handschrift die Etappen ihres Niedergangs festgehalten, das penible Protokoll eines erschütternden Persönlichkeitszerfalls, genaue Beschreibungen ihrer immer grausigeren Experimente, ihrer irrwitzigen Versuche, in ferner Zukunft irgendeine Wirkung zu erzielen und als erster und einziger Mensch hinter die Geheimnisse der Evolution zu kommen. Es gab aber auch ganz private Notizen, die zeigten, wie einsam und verzweifelt diese Frau gewesen war. Hilflos hatte sie erleben müssen, wie sie den aus ihrer Entdeckung erwachsenden Möglichkeiten verfallen und schließlich daran zerbrochen war.

Axt war ganz vertieft in seine beklemmende Lektüre, als er Herzog rufen hörte, dessen Stimme von weit her aus dem Inneren der Höhle zu kommen schien.

»Um Himmels Willen, das darf doch nicht wahr sein. Helmut«, schrie Herzog, und Axt kam es vor, als spräche der Berg selbst zu ihm. »Du mußt unbedingt herkommen.«

Er sprang auf, ließ Ellens Papiere mit einem Stein beschwert vor der Höhle liegen und folgte einem schwachen bewegten Lichtschimmer, der von Herzogs Taschenlampe zu kommen schien. Dann spürte er es auch. Je tiefer er in den Berg eindrang, desto enger schloß sich eine Klammer um seinen Kopf, desto wilder wurde das Gebrodel in seinem Magen. Er kannte dieses Gefühl. Das waren eindeutig dieselben Symptome ...

Axt stützte sich an der kalten Felswand ab, weil ihm schwindlig wurde.

»Spürst du es auch? Sie hat einen zweiten Zugang gefunden. Himmel, es gibt tatsächlich einen zweiten Zugang«, sagte Herzog, der nur wenige Meter vor ihm stand, ohne daß er es bemerkt hatte. »Ich glaube, es geht hier entlang.«

Unter großen Qualen tasteten sie sich voran. Manchmal fürchtete Axt, das Bewußtsein zu verlieren, sah schon den kalten, staubigen Höhlenboden auf sich zukommen. Als er sich einmal an seine Nase faßte, waren seine Finger voller Blut. Die Schmerzen waren viel schlimmer, als sie es bisher erlebt hatten, vielleicht weil sie zu Fuß gehen mußten und nur langsam vorankamen. In der anderen Höhle konnte man sich im Boot ganz der Strömung überlassen.

Abrupt ließ der Druck nach. Ein paar Meter weiter fiel durch einen Spalt im Felsen Licht ins Innere der Höhle. Der Ausgang.

»Wer weiß, wie viele von diesen Scheißschlupflöchern es noch gibt«, krächzte Herzog und rieb sich die schmerzenden Schläfen. Auch er hatte aus der Nase geblutet, sah aus, als hätte er eine Schlägerei hinter sich.

»Vielleicht führt er noch weiter in die Vergangenheit«, mutmaßte Axt. Nach all dem Wahnsinn hätte ihn gar nichts mehr gewundert. »Oder sogar in die Zukunft.« Dieser Gedanke war noch schrecklicher. Er konnte sich nicht vorstellen, daß die Zukunft besonders viel Ermunterndes für sie bereithielt.

»Psst«, machte Herzog und steckte den Kopf aus dem Felsenspalt. Davor wuchs dichtes Buschwerk. »Glaub ich nicht. In jedem Fall müßte es da dann auch Mopeds geben.«

»Mopeds?«

Tatsächlich. Jetzt hörte Axt es auch, leise zwar und in größerer Entfernung, aber irgendwo da draußen gab es eine Straße.

Plötzlich drängte sich Herzog an ihm vorbei, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Wir müssen die Eingänge verschließen«, sagte er beim Vorübergehen. »Jetzt sofort.«

Axt schaute ihm entgeistert hinterher. »Und wie willst du das anstellen, wenn ich fragen darf?«

Herzog blieb stehen und sah ihn an. Seine Augen sprühten Feuer. »Mit den Handgranaten!«

»Meinst du denn, die funktionieren noch?«

»Wir werden sehen. Ich möchte jedenfalls wetten, daß sie mit den fehlenden Granaten den Erdrutsch ausgelöst hat.«

Er hatte recht. Diese Schlupflöcher in eine andere Welt mußten zerstört werden. Es waren kleine Fehler, nur geringe Unstimmigkeiten im riesenhaften Gefüge der Welt, aber mit unabsehbaren Konsequenzen, wenn die falschen Leute davon Wind bekamen. Sie und die menschliche Gier nach Macht und Wissen paßten einfach nicht zusammen.

Natürlich konnten sie mit den Granaten nicht den ganzen Berg in die Luft sprengen, aber einer der unscheinbaren Sprengkörper, von Herzog in Richtung des Felsspaltes geschleudert, genügte, um den schmalen Eingang hinter einem Haufen lockeren Gesteins verschwinden zu lassen. Die Druckwelle zerriß ihnen fast die Trommelfelle. Eine Woge aus dichtem Staub kroch unter der Höhlendecke auf sie zu, nahm ihnen die Sicht und drohte sie fast zu ersticken. Hals über Kopf flohen sie zurück in Ellens Wohnhöhle. Ihre Ohren waren wie betäubt, und sie mußten danach schreien, um sich zu verständigen.

Zwei Stunden später kämpften sie sich noch einmal durch die mörderischen Kopfschmerzen auf die andere Seite hinüber. Der Staub hatte sich weitgehend abgesetzt, aber sie kamen durch die Trümmer der eingestürzten Höhlendecke, aus der überall noch kleine Staub- und Geröllfälle rieselten, kaum voran. Der Spalt schien verschwunden zu sein. Nur an zwei Stellen drangen nadeldünne Lichtpfeile durch das Gestein und die staubige Höhlenluft und erinnerten daran, daß dahinter eine andere Welt begann. Das mußte reichen.

Sie kehrten mit dröhnenden Schädeln in ihr Basislager zurück. Die Aufzeichnungen von Sonnenbergs Assistentin verbrannten sie Blatt für Blatt im abendlichen Lagerfeuer. Am nächsten Morgen traten sie endgültig die Rückreise an.

Bei diesigem, windstillem Wetter überquerten sie in Axts Faltboot die Meeresbucht, steuerten auf die Felseninsel zu und fuhren zum letzten Mal in die Höhle hinein, deren Existenz mindestens drei Menschen das Leben gekostet hatte. Es hätte nicht viel gefehlt, und es wären noch zwei hinzugekommen.