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Es war eine Wahnsinnsidee, eine spontane Verzweiflungstat ohne Sinn und Verstand, die beiden Höhlen von innen sprengen zu wollen. Beim ersten Mal war es gut gegangen, aber die beiden Granaten, mit denen sie den anderen, den großen Zugang verschlossen, kosteten sie um ein Haar Kopf und Kragen. Natürlich wäre es viel sinnvoller gewesen, die Sprengkörper aus sicherer Deckung von außen auf die Eingänge zu schleudern, aber dieser Gedanke kam ihnen erst später. Sie waren so besessen von ihrem Plan, von der überraschenden Möglichkeit, die ihnen durch die Entdeckung der Granaten in den Schoß gefallen war, daß sie alle Vorsicht buchstäblich über Bord warfen. Zu wieviel Dummheit doch zwei gestandene Wissenschaftler fähig waren. Herzog bestand darauf, auch die zweite, die große Höhle von innen zu verschließen. Ihr mächtiges neuzeitliches Eingangsportal sei einfach zu groß für die lächerliche Sprengkraft, die sie zur Verfügung hätten. Womöglich machten sie die Leute damit erst recht neugierig. Sie würden nur die slowakischen Bergbauern der ganzen Gegend alarmieren, aber den Höhleneingang niemals zum Einsturz bringen. Und eine zweite Chance gäbe es vielleicht nicht. Sie hätten keine Wahl. Jetzt oder nie. Er war einfach nicht zu bremsen, und Axt hatte dieser Dynamik nichts entgegenzusetzen.

Schon die erste Granate ließ den Berg erzittern, so, als erwache ein riesiges uraltes Wesen unsanft aus langem Schlaf. Wasser schwappte über den Bootsrand, und die Wand aus Staub, die sich auf sie zuwälzte, nahm ihnen die Luft zum Atmen. Sei es wegen der schlechten Sicht, der quälenden Kopfschmerzen, oder weil das Boot zu sehr schaukelte, Herzogs zweiter Wurf geriet jedenfalls zu kurz, und aus dem wie ein riesiger Gong bebenden Berg regnete es nun kindkopfgroße Gesteinsbrocken, die das kleine Boot nur um Haaresbreite verfehlten und um  sie herum auf die Wasseroberfläche klatschten. Einige spitze Felszacken lösten sich von der Höhlendecke und stürzten als tödliche Pfeile aus dem Dunkel herab. Einer durchbohrte die dünne Wand des Faltbootes, das in Sekundenschnelle voll Wasser lief. Die Petroleumlampe erlosch. In absoluter Finsternis griff das Wasser nach ihnen wie mit eiskalten klammen Händen, ihre Schreie übertönten das Dröhnen des Berges, und sie begannen in Todesangst gegen die Strömung anzuschwimmen.

Wie lange es dauerte, bis sie endlich auf den friedlich daliegenden Bergsee hinausschwammen, daran konnten sich später weder Herzog noch er erinnern, aber irgendwann, während sie sich im Dunkeln durch ängstliche Rufe verständigten und gegenseitig Mut zusprachen, entdeckten sie einen schwachen Lichtschimmer, an dem sie sich orientieren konnten, und gegen die lähmende Kälte des Wasser kämpften sie sich ins Freie.

Was wäre wohl aus ihnen geworden, wenn draußen Dunkelheit geherrscht hätte? Zweifellos hätten sie den Ausgang nie gefunden. Nie wieder würde Axt eine Höhle betreten, sich ohne panische Angstattacken in dunklen, engen Räumen aufhalten können, und noch heute hörte er in stillen Momenten das Dröhnen und Poltern des Gesteins. Die Ärzte nannten es schlicht Tinnitus. Sie hatten ja keine Ahnung.

Aber was bedeutete das alles schon.

Ellen war tot, Sonnenberg hatte sich erschossen, die Eingänge waren verschlossen, der Alptraum ausgeträumt. Beinahe.

Diebe

Als Axt in der verlassenen Station eintraf, ärgerte er sich zuerst über die beiden Rolltische, die mit schweren Schieferplatten beladen mitten im Präparationsraum standen und fast den ganzen Mittelgang blockierten. Das fing ja gut an. Wie er den Aufschriften entnahm, handelte es sich um einen Barsch und eine Art Antilope, deren Präparation Kaiser und Lehmke am Montag in Angriff nehmen wollten. Sie hatten sie anscheinend schon einmal aus dem Keller nach oben transportiert, aus Gründen, die ihm überhaupt nicht einleuchten wollten. Sicher, sie waren noch verpackt, es bestand keine akute Gefahr, aber es war trotzdem leichtsinnig, sträflich leichtsinnig. Er würde ein ernstes Wort mit ihnen reden müssen. Das waren ja ganz neue Sitten.

Er ging in sein Arbeitszimmer und entnahm der Schreibtischschublade den Schlüssel für den Klimaraum. Leicht würde ihm das, was er jetzt vorhatte, sicher nicht fallen. Er war Wissenschaftler, kein Saboteur. Die hehre Wissenschaft basierte auf Wahrheit und Ehrlichkeit. Nicht alles ließ sich nachprüfen und verifizieren, schon gar nicht in der Paläontologie. Abgesehen von einigen Fanatikern - die Ausnahmen, die die Regel bestätigten - waren Fälschung und Manipulation in ihrer großen Gemeinschaft tabu, sonst brach das ganze Gebäude, auf das er immer so stolz gewesen war, haltlos in sich zusammen. Auf nichts wäre dann mehr Verlaß. Aber in dieser außergewöhnlichen Situation hatte er keine andere Wahl. Er hatte lange darüber nachgedacht und sah keine andere Möglichkeit mehr, mit dem Problem fertig zu werden. Es ging ja nicht nur um seine seelische Gesundheit. Es ging um viel mehr. Wenn die Welt durch irgendeinen dummen Zufall von der Existenz dieses Skelettes erfuhr, dann waren die Konsequenzen einfach unabsehbar, auch wenn die Zugänge jetzt zerstört waren. Ellen hatte es vorgemacht. Auch andere würden nicht widerstehen können, Menschen, die über mehr Mittel und Macht verfügten als eine kleine Universitätsassistentin.

Er ging hinunter in den Keller, transportierte wie schon so oft den Rolltisch mit Tobias’ Schiefersarkophag nach oben und zirkelte ihn durch die Tür des Klimaraumes.

Sollte er ihn sich vorher noch einmal anschauen, Abschied nehmen? Es war schon Wochen her, daß er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Ach, nein, das hielt ihn jetzt nur auf. Sollte das Bild in seiner Erinnerung doch ruhig verblassen. Daß es irgendwann einmal ganz aus seinem Kopf verschwinden könnte, darauf wagte er gar nicht mehr zu hoffen. Damit würde er wohl leben müssen, bis ans Ende seiner Tage, genauso wie Herzog, wie Claudia und Michael. Sie alle waren Mitwisser, Komplizen wider Willen, obwohl sie nichts von der Existenz des Messeler Skeletts ahnten.

Natürlich hätte er einfach ein Beil oder die Motorsäge nehmen und das Ding damit in kleine Stücke zerlegen können. Aber aus irgendeinem Grund erschien ihm das für dieses ganz besondere Fundstück nicht das adäquate Ende zu sein. Nein, er hatte sich etwas anderes ausgedacht, etwas viel Besseres, viel Gründlicheres.

Sorgfältig entfernte er die Plastikfolie und das feuchte Zeitungspapier. Fast zärtlich strich er mit den Fingerspitzen über die nun freiliegende feuchtkalte Gesteinsoberfläche und kämpfte gegen die in ihm aufsteigenden Skrupel an.

Er mußte es tun. Dieses Skelett durfte nicht existieren.

Er ging zum Thermostaten und nach einem kurzen Zögern schob er den Regler mit einem Ruck bis zum Anschlag. Ein rotes Lämpchen leuchtete auf. Irgendwo sprang ein Aggregat an, und es ertönte ein Summen.

Plötzlich kamen ihm Bedenken. Was, wenn die Temperatur nun nicht ausreichte und seine Mitarbeiter den Block hier am Montag leicht angetrocknet, aber noch immer mehr oder weniger unversehrt vorfanden? Er hatte keine Ahnung, wie hoch die Temperatur steigen würde. Sie nutzten diesen Raum ja normalerweise zum Kühlen und nicht zum Heizen. Vielleicht dreißig, vielleicht fünfunddreißig Grad? Reichte das? Der Schieferblock war schließlich ziemlich groß und massiv. Vielleicht hielten die Apparaturen diese Belastung gar nicht lange genug aus und gaben vorher ihren Geist auf. Warum hatte er bisher nicht daran gedacht?

Er betätigte den Lüftungsschalter. Ein leises Heulen hub an, und er spürte einen kühlen Luftzug im Gesicht. Ihn fröstelte. Dann fielen ihm die Radiatoren ein, die irgendwo unten im Keller herumstanden. Im Winter wurde es mitunter recht kühl hier im Haus, und sie hatten sich die beiden Geräte von ihrem knapp bemessenen Stationsetat zugelegt, damit sie an kalten Tagen überhaupt vernünftig arbeiten konnten. Aber er war, abgesehen von dem großen Raum, in dem sie ihre Fossilienplatten lagerten, schon ewig nicht mehr da unten gewesen und hatte keine Ahnung, wo er nach den Radiatoren suchen sollte.