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Sechsundzwanzig Grad, und noch immer leuchtete die Lampe! Der Zerfall des Schieferblocks machte Fortschritte. Am Rand klafften die Platten jetzt an einigen Stellen auseinander, begannen sich zu wellen wie feuchtes Papier, das wieder trocknete. Überall lösten sich millimeterdünne zerbrechliche Scheibchen, die unter dem Druck seiner Finger in tausend kleine Bruchstücke zersprangen.

Trotzdem, es ging ihm viel zu langsam. Er holte einen Spaten und schabte die oberste trockene Schicht ab, damit die Wärme und der Luftzug besser angreifen konnte. Dann überkam es ihn plötzlich. Wozu so lange warten? Warum so kompliziert? Dieses langsame Austrocknen war doch ein völlig überflüssiger Luxus und kostete nur unnötig Nerven.

Mit einem Stöhnen stieß er zu, rammte die Schaufel zwischen die Platten und drückte sie auseinander. Dann noch mal. Und noch mal. Schwere Gesteinsbrocken polterten auf den Fußboden. Er keuchte. Immer wieder holte er aus. Bald bot der Raum mit den vielen Gesteinstrümmern, der herumliegenden Folie und dem dreckigen feuchten Zeitungspapier am Boden ein Bild der Verwüstung. Schwer atmend hielt Axt inne.

Idiot, dachte er. Das war völlig unnötig. Jetzt mußte er auch noch alles saubermachen und aufräumen, die Spuren beseitigen. Es mußte doch alles so aussehen, als hätten sie den Tisch mitsamt dem Skelett einfach nur hinausgeschoben und draußen umgeladen. Den Tisch würde er einfach irgendwo auf dem Grundstück stehenlassen.

Er verzog das Gesicht, rannte hinaus und holte mehrere große Müllsäcke, in die er in hektischer Eile soviel von den Schieferbruchstücken füllte, wie er tragen konnte. An einigen der Platten hafteten Knochen, Tobias’ Knochen, die Knochen eines Menschen, einer Person, die er gekannt hatte. Das war kein normales Fossil, es war eine Leiche, die er da wegschaffte. Die schweren Säcke schleppte er durch die kühle Abendluft nach draußen und wuchtete sie auf die Ladefläche seines Kombis. Jedesmal vergewisserte er sich vorsichtig, ob ihn auch niemand beobachtete. Wie ein Mörder, der die zerstückelten Überreste seines Opfers beseitigte.

Den leeren Klimaraum wischte er mehrmals mit einem feuchten Lappen aus. Auch seine dreckigen Fußabdrücke, die er beim Hinaustragen hinterlassen hatte, entfernte er sorgfältig. Wie leicht man sich plötzlich mit so etwas tut, wunderte er sich. Dann schaltete er die Lüftung aus, schob den Regler wieder auf zwölf Grad und schloß die Tür.

Aber der wirklich unangenehme Teil der Arbeit stand ihm noch bevor. Er nahm ein Brecheisen - gut, daß bei ihnen so etwas herumlag - und klemmte es zwischen Tür und Rahmen. Erst als er sich mit dem ganzen Körper dagegen stemmte, gab das Holz nach. Das häßliche Geräusch fuhr ihm in Mark und Bein. Er demolierte seine eigene Forschungsstation, ihren erst nach langem Hickhack eingerichteten Klimaraum.

Jetzt kam das Schlimmste. Er mußte, um den Schein zu wahren, etwas von ihren Schätzen opfern. Wenn hier Diebe einbrachen, die es auf Fossilien abgesehen hatten, dann würden sie sich nicht mit einem großen Beutestück zufriedengeben. Sie würden alles mitnehmen, dessen sie auf die schnelle habhaft werden konnten.

Er hatte Glück. Im Präparationsraum wurde im Augenblick nur an zwei Stücken gearbeitet. Obwohl Sabine ihm wahrscheinlich die Augen auskratzen würde, wenn er es jemals wagen sollte, eine solche Bewertung in ihrer Gegenwart abzugeben, aber da waren nur die Fledermaus, die sie gerade freilegte, und eine vollständig präparierte Beutelratte, keins der ganz bedeutenden Fundstücke also. Lehmke und Kaiser hatten ihre Arbeiten gerade abgeschlossen. Die Präparate waren noch am selben Tag nach Frankfurt ins Museum geschafft worden. Sabine würde er allerdings nie wieder ins Gesicht sehen können. Er wußte, daß sie am Boden zerstört sein würde. Erst lösten sich ihre Fossilien einfach in Luft auf, und dann wurden ihr auch noch welche gestohlen. Ihr mußte das Ganze wie eine Verschwörung vorkommen. Ohne hinzusehen stopfte er die beiden Präparate in einen weiteren Müllsack. Die Arbeit von Wochen. Es tat ihm in der Seele weh, aber er mußte sie verschwinden lassen. Es ging nicht anders.

Draußen schloß er die Haustür, verstaute den Beutel im Auto und ging anschließend mit dem Brecheisen zurück zum Haus, um die Flügeltür zum Präparationsraum aufzubrechen. Irgendwie mußten sie ja in das Haus gelangt sein. Teufel noch mal, es war wie der Amoklauf eines Wahnsinnigen, der blindwütig seine Zerstörungswut austobte.

Gerade, als er das Eisen ansetzen wollte, hörte er Stimmen. Er erstarrte.

Aus! Vorbei! Wieviel bekam man für Hausfriedensbruch, Diebstahl und mutwillige Zerstörung fremden Eigentums? Seinen Job konnte er auch vergessen.

Die Stimmen wurden wieder leiser. Es waren nur zwei Spaziergänger, wahrscheinlich Leute aus der benachbarten Wohnsiedlung, die ihren Hund Gassi führten und draußen am Zaun der kleinen Grünanlage vorbeischlenderten. Er ließ die Luft aus seinen Lungen entweichen und mußte grinsen. Himmelherrgott, er war ein einziges Nervenbündel. Glücklicherweise lag die Tür zum Präparationsraum auf der wegabgewandten Seite des Hauses. Er lauschte, wartete zur Sicherheit noch ein paar Minuten, dann setzte er das Brecheisen an und drückte zu. Es fühlte sich an, als zersplitterten seine eigenen Knochen.

Endlich im Auto sitzend legte er die Stirn auf das Lenkrad und atmete tief durch. Er überlegte fieberhaft, ob er vielleicht etwas vergessen hatte, irgendeine dumme Kleinigkeit. Wenn herauskam, daß er dies alles angerichtet hatte, dann ...

Die Kaffeemaschine!

Er sprang aus dem Wagen und stürzte wieder ins Haus. Ja, er hatte sie angelassen, und da stand ja auch noch seine Tasse mit dem mittlerweile kalten Kaffee. Er hatte kaum etwas davon getrunken. Dilettantisch!

Erst eine gute Stunde später kam er langsam zur Ruhe. Den Schiefer hatte er einfach in eine stillgelegte Kiesgrube geworfen. Spätestens morgen war alles zerfallen, nur noch Trümmer, die niemandem auffallen würden.

Ja, es war ein guter Plan. Alle würden an einen simplen Einbruch glauben. Die Diebe wollten reichlich Beute machen, erwischten dabei aber einen Tag, an dem nur wenig zu holen war.

Künstlerpech, dachte er und lachte vor sich hin. Daß der Block mit Tobias’ Überresten verschwunden war, würde, wenn überhaupt, erst in ein paar Monaten auffallen. Und dann würde er es mit dem Einbruch in Verbindung bringen. Da unten stand einfach zuviel herum, als daß sie jederzeit den genauen Überblick behielten.

Vielleicht hatte die ganze Angelegenheit sogar den angenehmen Nebeneffekt, daß die Senckenberg-Stiftung ihnen eine neue Schloßanlage für die Station spendierte. Die alte war ziemlich marode, und es war eigentlich ein Wunder, daß nicht schon früher Diebe zugeschlagen hatten.

Das Problem war aus der Welt, nicht aber aus seinem Kopf. Auch wenn er sich jetzt erleichtert fühlte, für ihn würde die Welt nie wieder so aussehen wie zuvor, darüber machte er sich keine Illusionen. Wie er damit fertig werden würde, mußte die Zukunft zeigen. Schlimmstenfalls mußte er eben kündigen und sich irgendwo einen anderen Job suchen. Dieser Gedanke hatte nach allem, was er erlebt hatte, viel von seinem Schrecken verloren. Schließlich hatte er am Ufer des wirklichen Messeler Sees gestanden, auch wenn er in diesem Moment nur daran gedacht hatte, Tobias nicht aus den Augen zu verlieren. Und danach, sein Versagen vor Augen, stand ihm der Sinn erst recht nicht nach intensiver Naturbetrachtung. Eigentlich schade, daß er so wenig davon mitbekommen hatte.

Er fuhr auf die Landstraße Richtung Darmstadt und pfiff leise vor sich hin. Durch das Wagenfenster schaute er hinaus in eine feuchte Flußniederung mit Wiesen aus sattem Grün. Dichte Nebelschwaden hingen darüber. Woran ihn das Bild nur erinnerte?

Plötzlich fiel ihm Ellen wieder ein, deren Skelett vielleicht noch immer irgendwo in der Grube lag.

Na ja, die Fossilüberlieferung war lückenhaft, das hatte er kürzlich sehr anschaulich erfahren. In den zwei Millionen Jahren, deren Zeugnisse in der Grube Messel die Zeiten überdauert hatten, waren dort sicher Tausende und Abertausende von Tieren gestorben, große und kleine, alte und junge, und es waren tonnenweise Blätter und andere Pflanzenteile in den See gefallen. Wenn sich alle diese Überreste als Fossilien erhalten hätten, müßte die Grube ja randvoll mit Knochen sein, geradezu überquellen vor Baumstämmen, Blattresten und Samen. Nein, nein, nein, er hatte bisher nicht allzuviel Glück gehabt in dieser Angelegenheit, und irgendwann mußte schließlich auch die hartnäckigste Pechsträhne einmal zu Ende gehen. Er hatte das Gefühl, daß mit dem heutigen Tag wieder bessere Zeiten für ihn anbrachen.