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Niemand schien zu begreifen, daß die Natur etwas so Riesenhaftes, so unendlich Vielfältiges war, daß man unmöglich alles kennen konnte und auf ewig dazu verurteilt war, bei neunzig Prozent aller Fragen ratlos mit den Achseln zu zucken.

Er legte das Herbarblatt zur Seite - Botanik war nicht gerade seine Stärke, und das fragliche Exemplar sah für ihn zunächst einmal aus wie jede andere plattgepreßte und vertrocknete Pflanze auch - und widmete sich der Zigarettenschachtel. Neben einigen Blatt zusammengeknüllten Toilettenpapiers beförderte er schließlich einen schillernden, etwa vier Zentimeter großen Käfer zu Tage, der in einem kleinen durchsichtigen Kunstharzblock eingeschlossen war.

»Ohh, ein Buprestide.«

Ein Prachtkäfer, und was für einer. Die länglich-ovalen Flügeldecken glänzten wie ein Juwel und schimmerten je nach Lichteinfall in allen Farben des Regenbogens. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie in der Hand gehabt. Flügeldecken, Halsschild und Kopf des Tieres schillerten in metallischem Blau und Grün. Auf mehreren der inneren Flügeldeckenrippen zogen sich unterbrochene, bronzefarbene Linien entlang. Er war wirklich wunderschön, prächtig.

Dann stutzte er. Micha bildete sich ein, schon recht gut mit den einheimischen Käferarten vertraut zu sein, aber ein solches Juwel war ihm noch nie untergekommen. Wenn er es sich recht überlegte, war er eigentlich ziemlich sicher, daß dieses Tier nicht zur einheimischen Fauna gehörte. Und jetzt, da er darüber nachzudenken begann, konnte er sich auch kaum vorstellen, daß ein paar hundert Kilometer weiter - in der Slowakei -plötzlich Spezies vorkommen sollten, die aufgrund ihrer Größe und Farbausstattung eher in die Tropen paßten. Einheimische Arten konnten da in der Regel nicht mithalten. Bloß nicht auffallen, hieß die Devise. Da unterschieden sie sich kaum von den Menschen, die hier lebten. Für mitteleuropäische Verhältnisse präsentierte ja ein Marienkäfer mit seinem schlichten Rot-Schwarz schon eine zügellose Farborgie. Aber die Käfer waren ungeheuer vielgestaltig, die artenreichste Tiergruppe, die es überhaupt gab. Bei weltweit fast einer halben Million Arten war sein Wissen notgedrungen lückenhaft. Er konnte nicht restlos ausschließen, daß es in der Slowakei nicht doch schon ganz andere, etwa aus den Steppengebieten Osteuropas stammende Käferarten gab, von denen er nichts wußte.

Außerdem, wo sollte das Tier denn sonst herkommen? Tobias hatte doch sowohl am Telefon als auch in seinem Brief eindeutig von einem Mitbringsel gesprochen, von einem Tier, das ihm gegen die Campinglampe geflogen war.

Vielleicht trieb er nur einen Scherz mit ihm. Mit seinen Kommilitonen hatte Micha sich auch schon das verblüffte Gesicht von Prof. Rothmann ausgemalt, einem Insektenkund-ler, der mit Hilfe von alten, in den Boden gegrabenen Joghurtbechern den Käfern des heimischen Grunewaldes nachstellte, wenn er einmal einen Exoten, vielleicht eine mediterrane Art, vorfände, die sie ihm unter des Grunewalds Käfereinerlei geschummelt hätten. Sie waren sich alle sicher, daß er in heller Aufregung die Institutsgänge entlangstürmen und jedem, der ihm über den Weg lief, von seinem sensationellen Erstnachweis dieser Käferart für Mitteleuropa berichten würde. Das sind die raren Höhepunkte eines Forscherlebens.

So wie sich Tobias ihm bisher präsentiert hatte, traute er ihm hintergründigen Humor dieser Art durchaus zu. Er nahm sich vor, in den nächsten Tagen einmal in der Institutssammlung nachzuschauen, ob es eine solche Art in Deutschland gab. Und wenn er in der Sammlung nicht fündig werden sollte, gab es da zumindest reichlich Literatur und sicherlich auch eine Fauna Tschechoslowakia oder so etwas, wo er sich Klarheit verschaffen konnte.

Er legte den Harzblock mit dem Käfer auf seinen Schreibtisch, verstaute das Herbarblatt in einer der Schreibtischschubladen und zündete sich dann schmunzelnd eine Zigarette an. Nein, so leicht würde Tobias ihn nicht hinters Licht führen.

Ein paar Tage später suchte er in der Zoologischen Sammlung des Instituts in dem Schrank mit der Käfersammlung nach den Buprestiden, den Prachtkäfern. Er war zwar überrascht, daß einige der einheimischen Arten sich, was Schönheit, Farbenpracht und Metallglanz anging, durchaus mit Tobias’ Mitbringsel messen konnten, aber nicht hinsichtlich ihrer Körpergröße, und das gab seinem Verdacht letztlich recht. Die größten deutschen Prachtkäfer maßen kaum mehr als drei Zentimeter und waren eher unscheinbar, jedenfalls alles andere als prächtig und sowieso so gut wie ausgestorben. Und die, die farblich in Frage kamen, die bunten, schillernden Arten der Gattungen Lampra und Palmar, waren erheblich kleiner.

Zwei, drei Stunden intensiven Suchens und Blätterns in der institutseigenen Bibliothek bestätigten ihn dann in einem weiteren Punkt: Auch die Prachtkäfer der Slowakei machten ihrem Namen wenig Ehre und sahen eher aus wie graue Mäuse.

Der Kerl hatte tatsächlich versucht ihn hereinzulegen. Er brauchte einen Moment, um das zu verdauen. Dann begann er Rachepläne zu schmieden, allerdings ohne daß ihm zunächst etwas Adäquates eingefallen wäre.

Wahrscheinlich hatte Tobias das Ding in einem dieser Naturalienläden gekauft, wo angeblich naturliebende Ästheten sich mit farblich zum Teppich oder zur Gardine passenden Schmetterlingen, bizarren Korallenstöcken oder horrorfilmreifen Riesenheuschrecken ausstatten konnten, eine ziemlich perverse Ausprägung großstädtischer Naturverbundenheit. Als naturschutzbewegter Mensch durfte man dort nichts kaufen. Noch ein Grund mehr, sich über Tobias zu ärgern.

Zunächst einmal beschloß er, so zu tun, als sei ihm der Betrug gar nicht aufgefallen. Aus seinem Munde würde Tobias kein Sterbenswörtchen darüber hören. Wahrscheinlich verbarg sich hinter der getrockneten Pflanze der gleiche Schmu.

Eines Abends, knapp zwei Wochen später, rief ein aufgekratzter Tobias an und versuchte ihn mit Hilfe eines kaum zu bremsenden Wortschwalls in eine Kreuzberger Kneipe zum Bier einzuladen. Er hatte alle Mühe, sich gegen die enorme Geräuschkulisse im Hintergrund durchzusetzen. Micha ließ sich überreden und traf ihn eine halbe Stunde später an der Theke eines lauten und verqualmten Ladens, den er vorher nie betreten hatte.

Tobias grinste Micha mit seinem blitzenden Zahn an, klopfte ihm zur Begrüßung kumpelhaft auf die Schulter und sagte: »Da bist du ja.«

»Hallo!«

»Komm, wir setzen uns dahinten hin, da ist es ein bißchen ruhiger.« Er legte ihm die Hand auf die Schulter, griff nach seinem Bier und schob ihn durch die dichtgedrängt stehenden, durcheinander redenden Menschen. Er schien sich hier auszukennen, denn sie erreichten einen zweiten Raum, in dem es wesentlich ruhiger war. Sie setzten sich an einen freien Tisch, und Micha bestellte bei der gerade vorbeieilenden Bedienung ein Bier.

»Bist du öfter hier?« fragte er.

»Hin und wieder.« Er lachte. »In Sechsunddreißig herrscht kein Mangel an Kneipen.«

»Anders als in eurem Dorf, was?«

Sie redeten eine ganze Weile über Gott und die Welt, über Großstadt und Landleben, über Berlin und Stuttgart, die Schwaben, die einem hier überall über den Weg liefen, und über das Universitätsleben. Tobias wirkte gelöst und ausgesprochen gut gelaunt und machte nicht den geringsten Versuch, das Gespräch auf seine Reise oder gar das Päckchen zu lenken, das er geschickt hatte. Micha hatte sich zwar vorgenommen, nichts zu sagen, aber je länger sie plauderten, desto irritierender fand er Tobias’ Verhalten. Nachdem sie so mindestens zwei Stunden zugebracht und etliche Biere geleert hatten, beschloß er, zwei alten, bewährten Grundsätzen zu folgen. Der erste hieß: Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, der zweite: Angriff ist die beste Verteidigung.