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Eine Altersbestimmung würde alles aufklären. Einen Moment lang klammerte er sich an diesen Gedanken wie an einen Rettungsring und genehmigte sich noch einen Whisky zur Beruhigung. Dann fiel ihm ein, daß die Grabungsstelle und der Schiefer völlig unversehrt gewesen waren. Er hatte es ja selbst gesehen, hatte mit Hand angelegt.

Am nächsten Abend, als alle anderen die Station lange verlassen hatten, überzeugte sich Gernot Schmäler selbst von der Richtigkeit dessen, was Axt ihm am Telefon gesagt hatte. Danach wirkte der grauhaarige beleibte Mann um Jahre gealtert. Aber im Gegensatz zu seinem jüngeren Mitarbeiter erholte er sich schnell.

Als sie anschließend in Axts Arbeitszimmer zusammensaßen, hielt Schmäler ihm einen Vortrag, der seine Geduld auf eine harte Probe stellte. Er hätte jetzt selbst gesehen, was da in dem Schieferblock ruhe, sagte Schmäler mit ernster, bedeutungsvoller Miene - er hat sein Direktorengesicht aufgesetzt, dachte Axt -, und nun sei es von allergrößter Bedeutung, daß sie nichts davon nach außen verlautbaren ließen. Das Ansehen ihrer Wissenschaft, des Museums, ja, der Grube als weltberühmter Fossilienlagerstätte wäre gefährdet, wenn ohne weitere Untersuchungen, die diesen üblen Scherz zweifelsohne entlarven würden, die Öffentlichkeit davon erfuhr. All das war für Axt keineswegs neu, und er spürte, wie er während Schmälers langer Rede in tiefe Resignation zu versinken drohte.

Nach der Probenentnahme für die Altersbestimmung, die Schmäler selbst vornahm, brachten sie den Schieferblock wieder hinunter in den Keller. Als sie sich vor der Station trennten, blieb bei Axt das fatale Gefühl zurück, keinen Schritt weitergekommen zu sein. Immerhin gab es jetzt einen Hoffnungsschimmer. Aber selbst, wenn sich herausstellen sollte, daß es sich um das Skelett eines heutigen Menschen handelte -Schmäler schien daran keine Sekunde zu zweifeln, das Opfer eines Verbrechens, oder weiß der Himmel was -, dann blieb immer noch die Frage, wie man es in die Grube geschafft hatte, mitten in den intakten Schiefer, ohne dabei irgendwelche erkennbaren Spuren zu hinterlassen. Es sah alles so aus, als ob der Steinsarg, in dem das Skelett eingeschlossen war, seit vielen Millionen Jahren nicht mehr geöffnet worden war. Das war ein Problem, das Schmäler einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollte.

Das Herbarblatt

An den folgenden Tagen fragte sich Micha immer wieder, warum er Tobias nicht direkt angesprochen und gefragt hatte, was der ganze Quatsch solle, ob er denn allen Ernstes glaube, auf diese Art ihre alte Freundschaft Wiederaufleben lassen zu können. Aber das Ganze war ausgesprochen verwirrend. In seinem Kopf schien sich alles im Kreise zu drehen.

Er ging noch einmal in die Bibliothek, aber auch dieser zweite Versuch brachte kein anderes Ergebnis. Nach allem, was er in Erfahrung gebracht hatte, konnte dieser Käfer unmöglich aus Mittel- oder Osteuropa stammen. Zu dem naheliegenden Schritt, einen Fachmann wie etwa Prof. Rothmann zu fragen, konnte er sich nicht durchringen und dies nicht etwa, weil Tobias in seinem Brief damals eine entsprechende Andeutung gemacht hatte. Er wollte vermeiden, Rothmann gegenüber als Ignorant dazustehen, wenn sich sein Verdacht doch als Hirngespinst erweisen sollte. Bei dem Mann wollte er seine Diplomarbeit schreiben, und er wollte sich nicht schon vorher disqualifizieren.

Er war also keinen Schritt weitergekommen und verspürte nicht das geringste Bedürfnis, Tobias wiederzusehen. Der Typ konnte ihm ein für allemal gestohlen bleiben. So dumm war ihm noch keiner gekommen.

Wochen später fiel ihm das Herbarblatt mit der getrockneten Pflanze wieder ein, und er kramte es einer plötzlichen Eingebung folgend aus den Tiefen seines Schreibtisches hervor. Kater und Pflanze hatten vielleicht etwas miteinander zu tun, und möglicherweise brachte ihn ja eine nähere Untersuchung der Pflanze weiter. Also verschob er wider besseres Wissen die Ausarbeitung eines Referates und versuchte sich, das Herbarblatt vor Augen, durch den Pflanzenbestimmungsschlüssel zu kämpfen.

Es handelte sich um eine Blütenpflanze, soviel stand fest. Neben einem relativ großen Blatt, das fast ein Drittel des gesamten Herbarbogens bedeckte, hing an einem kräftigen Stiel eine große Blüte mit zahlreichen Blütenblättern. Ihm fiel ein, daß Tobias in der Kneipe von einer Wasserpflanze gesprochen hatte, was ihm die Arbeit erheblich erleichterte, denn er konnte gleich in die entsprechende Tabelle springen. Er fand ziemlich schnell heraus, daß es eine Seerose war, und zu seiner großen Erleichterung gab es davon in Deutschland nur vier verschiedene Arten. Das konnte ja nicht so schwer sein. Aber schon bei der ersten Frage blieb er stecken.

»Kelchblätter 4, grün; Blütenkronenblätter weiß ... oder

Kelchblätter 5, gelb; Blütenkronenblätter gelb«,

fragte das Buch.

Nichts dergleichen! Selbst nach wiederholtem Zählen blieb das Ergebnis dasselbe: sechs grüne Kelchblätter und ein ganzer Haufen bräunlicher, früher vielleicht gelber Blütenblätter, jetzt begann das gleiche Spiel also wieder von vorne: Gab es in der Slowakei mehr als diese vier Arten?

Ihm fiel Claudia ein, die er während eines Praktikums kennengelernt hatte. Sie schrieb gerade bei den Botanikern ihre Diplomarbeit. Vielleicht könnte sie ihm helfen. Im Grunde zweifelte er keine Sekunde mehr daran, daß auch die Seerose nicht aus der Slowakei stammte, aber nachdem er schon soviel Zeit daran verschwendet hatte, wollte er es genau wissen.

Gleich am nächsten Tag stiefelte er nach einem Seminar im Zoologischen Institut durch dichten Nieselregen die paar Meter zur Botanik hinüber. Er fragte sich durch und fand Claudia schließlich in einem Laborraum über ein dickes Buch gebeugt. Sie wandte ihm den Rücken zu, aber er erkannte sie sofort an ihren breiten Schultern.

»Hallo Claudia!«

»Micha! Was machst du denn hier?« Sie blickte überrascht auf und schien nicht besonders unglücklich über seinen Besuch zu sein.

»Stör ich?«

»Ach was! Ich habe einiges zu lesen, aber es ist todlangweilig.«

Sie grinste ihn an und schlug mit einem Schwung das Buch zu, als hätte sie nur auf diese Gelegenheit gewartet, um ihre Lektüre endlich abbrechen zu können. Mit einem Stöhnen streckte sie sich einen Moment, und er bewunderte wie damals, während des Praktikums, ihre kräftigen Arme. Claudia war Kugelstoßerin. Wenn er sich recht erinnerte, hatte sie es sogar bis zur Berliner Meisterschaft gebracht. Wie eine Frau versessen darauf sein konnte, schwere pampelmusengroße Stahlkugeln ein paar lächerliche Meter weit durch die Luft zu wuchten, war ihm zwar ein Rätsel, aber sie hatte so getan, als sei dies für sie eine der ganz großen Herausforderungen, die einem im Leben so begegneten.

»Kommst du mit deiner Arbeit voran?« fragte er sie und sah sich in dem ordentlich aufgeräumten Labor nach einer Sitzgelegenheit um.

»Dahinten müßte noch ein Stuhl stehen.« Sie zeigte in die andere Ecke des Raumes. »Ja, da! Ach, es geht eigentlich ganz gut. Meine praktische Arbeit habe ich abgeschlossen. Jetzt schreibe ich zusammen und muß diesen ganzen Stuß hier lesen.« Sie deutete auf Bücher und Fotokopien, die sich auf dem Schreibtisch stapelten.

»Und was macht der Sport?«

»Na, im Augenblick muß ich natürlich etwas kürzer treten, wegen der Diplomarbeit.« Sie klopfte sich auf die Oberschenkel, die ihn damals schon so fasziniert hatten. »Ich komme schon langsam außer Form vom vielen Sitzen, ich merke das.« Mit einer wegwerfenden Handbewegung fügte sie noch hinzu: »Aber gegen diese hochgezüchteten Mannweiber aus Wessiland habe ich sowieso keine Chance. Was soll’s also?« Sie grinste. Es schien ihr nicht viel auszumachen.