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»Saurier sind aber viel spannender«, beharrte Stefan und ließ seinen Löffel so in den Teller platschen, daß die Milch über den Küchentisch spritzte.

»Iß anständig«, ermahnte ihn Marlis und verpaßte ihm einen leichten Klaps auf den Hinterkopf. Er grinste.

»Die Messeler Fossilien sind auch sehr spannend. Wir haben neulich erst ein riesiges Krokodil gefunden«, log Axt.

»Ooch, Krokodile, die gibt es doch auch im Zoo. Die sind voll langweilig.« Aber ein Schimmer erwachten Interesses glomm in seinen Augen. »Wie groß ist es denn?«

»Mindestens fünf Meter«, antwortete Axt und kam sich bei seinen Lügengeschichten entsetzlich schäbig vor. So große Krokodile gab es damals gar nicht, jedenfalls hatten sie noch keines entdeckt.

»Bloß fünf Meter?« Stefans Gesicht verzog sich voller Geringschätzung. »Brachiosaurier waren über zwanzig Meter lang und wogen zig Tonnen.«

Axt fühlte, wie sein Arm zuckte, als führe er ein Eigenleben. Marlis mußte ihn beobachtet haben, denn sie warf ihm einen warnenden Blick zu und runzelte die Stirn. Er senkte die Augen.

»Komm, mein Kleiner! Wir müssen los«, sagte Marlis, während sie sich die Hände wusch. Sie brachten Stefan immer abwechselnd auf dem Weg zur Arbeit an der Schule vorbei, und heute war sie an der Reihe. »Hast du deine Schulsachen?«

»Liegen draußen.«

»Na, dann los. Wir sind schon spät dran.«

Der Junge sprang auf und rannte aus der Küche. Marlis trat neben Axt, drückte ihm einen Kuß auf die Stirn und schaute ihm mit einem fragenden Ausdruck voller Traurigkeit in die Augen, als wollte sie sagen: Was ist nur los mit dir? Es ging ihm durch Mark und Bein.

»Ich bleibe gleich in der Stadt und mache noch ein paar Besorgungen vor der Arbeit«, sagte sie und trat dann in die Diele hinaus, wo Stefan schon auf sie wartete.

»Tschüs, Papa!«

»Tschüs, Stefan!« Dann fügte er spontan hinzu. »Wollen wir uns am Wochenende die neue Dinosaurierausstellung in Frankfurt anschauen?«

»Au, ja!« Der Kleine schaute strahlend um die Ecke. Aber da war auch ein wenig Unglauben in seinem Blick. Bisher hatte sich Axt erfolgreich darum gedrückt. Er war ein Rabenvater.

»Versprochen?« fragte Stefan.

»Ja, wir fahren am Sonntag hin. Großes Ehrenwort!«

Marlis lächelte ihm noch einmal zu, während sie den nun ununterbrochen quasselnden Jungen aus der Haustür schob.

»Mario war auch schon da. Es muß wahnsinnig toll sein. Sie haben da eine ganze Herde, sogar mit Kleinen. Und die brüllen richtig .«

Die Tür fiel ins Schloß. Axt kam sich plötzlich schrecklich verlassen vor. Durch das Küchenfenster verfolgte er, wie Marlis auf ihren Kombi zulief und Stefan neben ihr wild gestikulierend umhersprang. Als sie den Wagen zurücksetzte, winkte sie ihm noch einmal zu. Axt winkte lächelnd zurück. Die beiden waren alles, was er hatte. Er durfte es auf keinen Fall dazu kommen lassen, daß sein Familienleben unter dieser Sache zu leiden begann. Er mußte sich zusammenreißen.

Als er eine halbe Stunde später in seinem Wagen saß und die Landstraße nach Messel entlangfuhr, brachte er wieder mehr Verständnis für sich auf. Da war dieses unsägliche Skelett, das unaufhörlich sein Denken beherrschte und ihm nachhaltig die Freude an seiner Arbeit verdorben hatte. Auch in den seltenen Momenten, in denen er einmal nicht daran dachte, schien es ihn fest im Griff zu haben. Alles fraß er in sich hinein. Manchmal wurde diese Last für ihn alleine einfach zu schwer. Das wäre jedem so gegangen. Er konnte mit niemandem darüber reden, ohne für verrückt erklärt zu werden, aber auch sein Schweigen würde über kurz oder lang zu keinem anderen Ergebnis führen.

Und Schmäler? Schmäler glaubte wohl, mit der Altersbestimmung wäre das Problem gelöst. Seitdem hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen.

Sicher, auch er klammerte sich an diese vage Aussicht, fieberte dem Ergebnis entgegen, aber im Gegensatz zu seinem Chef hatte er die Ausgrabungsstelle gesehen, hatte selbst mitangepackt, um den vermeintlichen Sensationsfund aus dem völlig unversehrten Schiefer zu holen. Ein Sensationsfund war es ja auch geworden.

Und dann, als wäre das alles noch nicht genug, kam dieser Saurierfilm und löste eine Hysterie sondergleichen aus, eine geradezu ekelerregende Explosion hirnlosen Schwachsinns. Dieselben Leute, die sich noch vor ein paar Monaten von seiner Arbeit fasziniert und begeistert gezeigt und ihn mit Fragen bombardiert hatten, erübrigten nun nur noch ein mitleidiges Lächeln für ihn, so als fasele er fortwährend von einer Einhandweltumsegelung und schippere doch nur mit einem Paddelboot auf dem nächstgelegenen Baggersee herum, als spiele er sich als ICE-Lokführer auf und steuere in Wirklichkeit nur eine mickrige Modelleisenbahn zwischen den Beinen seines Wohnzimmertisches hindurch. Das war einfach zuviel.

Natürlich hätte er ganz überzeugende Gründe aufzuzählen gewußt, warum die Beschäftigung mit seinen Messeler Fossilien tausendmal aufregender war, als in monatelanger buchstäblicher Knochenarbeit die Überreste eines Tyrannosaurus aus Kreidegestein zu hacken, aber er war sich einfach zu schade für derlei Erbsenzählerei.

Neulich wäre ihm wirklich fast der Kragen geplatzt. Frau Sagmeister, bei der er seit mehr als zehn Jahren fast täglich die Brötchen holte und die ihn stets mit Herr Doktor anzureden pflegte, strahlte wie ein Honigkuchenpferd, als sie ihn auf die neueste Erweiterung ihrer weit und breit unerreichten Produktpalette aufmerksam machte. Ob es denn nicht an der Zeit wäre, daß der Herr Paläologe - sie hatte nach zehn Jahren nicht begriffen, wie das Wort richtig hieß - sich endlich einmal mit richtigen Fossilien beschäftigte, hatte sie gesagt und ihm mit ihren fetten Armen einen Korb mit Semmeln in Dinoform unter die Nase gehalten. Mohnbrötchen in Stegosaurierform, Tyran-nosaurier als Croissants, Brontosaurier aus Laugenbrezelteig. Das war nun wirklich der Gipfel der Geschmacklosigkeit. Wahrscheinlich hatte ihr pickliger Sohn, der bei den Axts mitunter den Rasen mähte, erzählt, der Herr Doktor würde sich ja nur mit Spielzeugfossilien beschäftigen. Am liebsten hätte er ihr eine ihrer Dinosemmeln mitten hinein in das dümmliche Gesicht, zwischen ihre dick bepuderten, feisten Hängebacken gesteckt, aber er verließ nur wutschnaubend und ohne ein Wort den Laden und holte seine Frühstücksbrötchen bei der Konkurrenz. Das war sicherlich nicht gerade das, was man als souveräne Reaktion eines überlegenen Geistes bezeichnen konnte, aber zu schlagfertigen Antworten war er im Augenblick nicht in der Lage.

Diese Brötchen waren nur die Spitze des Eisbergs. Neulich hatte er im Fernsehen sogar Werbung für Fischfrikadellen in Dinoform gesehen, und selbst die Dinosaurierforscher, ernsthafte Wissenschaftler wie er, paßten das Niveau ihrer Namensneuschöpfungen neuerdings dem von Waschmittel- und Toilettenreinigerreklamen an. Je größer die Skelette wurden, die sie entdeckten, desto dümmer wurden die Namen, die sie ihnen gaben. Die Amerikaner taten sich in diesem Zusammenhang besonders hervor. Ein Skelettfragment, das sie in Colorado gefunden hatten, tauften sie Supersaurus, und als sie dann wenig später in derselben Gegend ein noch größeres Tier fanden, blieb ihnen wohl nichts weiter übrig, als es Ultrasaurus zu nennen. Zweifellos würde das nächste Hypersaurus heißen und dann Superultrasaurus und so weiter.

Das Ganze wäre ja halb so schlimm, wenn diese Modewelle zu einem tiefer gehenden Interesse, zu einer andauernden Leidenschaft geführt hätte. Aber er befürchtete, daß gerade dieses Übermaß, dieses perverse Ausschlachten um jeden Preis, in kurzer Zeit genau den gegenteiligen Effekt haben würde. Bei Stefan waren schon deutliche Anzeichen von Überdruß auszumachen, nachdem sich sein Kinderzimmer innerhalb weniger Wochen in ein Dinosaurierkabinett verwandelt hatte, von dem Axt als Kind nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Aber nun kam nicht mehr viel Neues nach und die Dosierung dieser Dinodroge war so hoch, daß das Ganze bald an einer Überdosis zu kollabieren drohte.