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Und mir erst, dachte Axt.

Der Vortrag

Der alte Vorlesungssaal mit seinen steil ansteigenden Sitzreihen füllte sich langsam. Michael betrat ihn durch den Privile-gierteneingang, den man über den ersten Stock des Instituts und den Raum erreichte, in dem das Kartenmaterial für die Vorlesungen lagerte. Die Tür lag gleich links neben der großen mehrteiligen Tafel, so daß Micha beim Betreten des Saales direkt auf die hölzernen, schon gut besetzten Sitzreihen blickte. Es war tatsächlich ein erhebendes Gefühl, den Saal zum ersten Mal nicht durch den Dienstboteneingang zu betreten, den die Studenten benutzten, wenn sie die Vorlesungen besuchen wollten. Der Privilegierteneingang war den Professoren für ihre Lehrveranstaltungen vorbehalten und bei Anlässen wie diesem, einem der traditionellen Colloquiumsvorträge, allen Angehörigen des Instituts. Es gab natürlich keine Eingangskontrolle, niemanden, der einen zurückgeschickt hätte, wenn man nicht zu dieser elitären Gesellschaft gehörte, aber es war ein ungeschriebenes Gesetz, an das sich alle hielten. Micha hatte sich der Arbeitsgruppe von Prof. Rothmann angeschlossen, wollte im Sommer mit den Untersuchungen für seine Diplomarbeit beginnen und hatte schon einmal angefangen, sich in sein zukünftiges Arbeitsgebiet einzulesen, an seinem nur für ihn reservierten Arbeitsplatz wohlgemerkt. Plötzlich gehörte er dazu, und in der Tatsache, daß er zusammen mit Karin und Detlef, zwei Doktoranden Rothmanns, den Eingang unten neben der Tafel benutzte, manifestierte sich dieser neue Status für ihn zum ersten Mal. Wenn auch nur als ganz kleiner Fisch, war er nun Teil der großen internationalen Gemeinschaft der Wissenschaft. Zu seiner eigenen Überraschung erregte ihn diese Vorstellung wesentlich mehr als erwartet.

Das Mittwochscolloquium hatte eine langjährige Tradition, die mit großer Sorgfalt gepflegt wurde. Meistens referierten dort von den unterschiedlichen Arbeitsgruppen eingeladene Gastdozenten über so spezielle Themen, daß man kaum die Titel verstand, geschweige denn den Vortrag selbst. An solchen Tagen verloren sich kaum Studenten hierher, und die Institutsangehörigen blieben weitgehend unter sich. Von letzteren wurde allerdings erwartet, daß sie sich dort blicken ließen, ganz egal, worum es ging.

Die Vortragsreihe dieses Wintersemesters fiel allerdings aus dem Rahmen und war daher ungewöhnlich gut besucht. Selbst dieses den höheren Weihen der Wissenschaft verschriebene Institut hatte sich dem allgemeinen Dinofieber nicht ganz entziehen können und die Colloquiumsreihe unter das spezielle Thema gestellt: Paläontologie und Evolution - eines der Schlüsselgebiete aller biologischen Wissenschaften. Und der Andrang war wirklich enorm. Selten hatte man den alten Vorlesungssaal derart gefüllt gesehen. Schon am letzten Mittwoch bei dem ziemlich speziellen Vortrag über Chronospezies - Fossilien und Artbegriff - war der Saal aus allen Nähten geplatzt, und auch heute, zumal ein relativ unspektakuläres Thema auf dem Programm stand, deutete sich ein überdurchschnittlich guter Besuch an.

Die drei suchten sich einen Platz in einer der oberen Sitzreihen, damit sie alles gut im Auge behalten konnten. Die unteren Reihen waren den Professoren und ihren Assistenten vorbehalten. Wie immer würden die erst in letzter Minute zum Colloquium erscheinen.

Im Raum herrschte gespannte Erwartung. Unten vor der Tafel stand eine kleine Gruppe zusammen, die sich angeregt unterhielt. Die meisten waren Wissenschaftler des Instituts, aber ein nervös wirkender, kräftig gebauter Mann mit Bürstenhaarschnitt war Micha unbekannt und schien der Referent des heutigen Nachmittags zu sein, Dr. Helmut Axt von der Sen-ckenberg-Forschungsstation Messel. Irgendwie paßte der Name zu ihm. Sein Kinn ragte aus dem rundlichen Gesicht, als könne er damit die Fossilien ohne weitere Hilfsmittel aus dem Gestein hacken.

Immer mehr Leute strömten in den Saal, von oben durch den Dienstbotenaufgang eine erstaunlich große Zahl interessierter Studenten und von unten durch den Privilegierteneingang die Mitarbeiter des Hauses. Letztere erschienen meist in kleinen Gruppen. Sie hatten noch in ihren jeweiligen Labors zusammengesessen und Kaffee getrunken und waren dann arbeitsgruppenweise aufgebrochen, je später, desto bedeutender. Das ganze Schauspiel folgte einem verborgenen Regelwerk, das zu verstehen nur Alteingesessenen vorbehalten war, ein seltsames Ritual, dessen Faszination sich Micha kaum entziehen konnte.

Oft war dieses Vorspiel allerdings bei weitem das Interessanteste an einem solchen Nachmittag, denn nicht selten entpuppten sich die Vortragenden als hochgebildete und hochspezialisierte Langweiler der allerschlimmsten Sorte, die jedes Feuer, jede Leidenschaft vermissen ließen und ihren Stoff gespickt mit Fachtermini so herunterleierten, daß man schon nach wenigen Sätzen mit dem Schlaf kämpfte. Noch unangenehmer waren allerdings die Referenten, die den Zuhörern ihren Stoff in einem derart atemberaubenden Tempo um die Ohren schlugen, daß einem Hören und Sehen verging und danach sehr grundsätzliche Zweifel aufkamen, ob man wirklich das richtige Studienfach gewählt hatte.

Schubert, der Evolutionsbiologe des Instituts und Organisator dieser Colloquiumsreihe, begann auf die Uhr zu schauen. Sein Assistent, ein arroganter Typ mit Seitenscheitel, dem Micha schon einige Male auf den Institutsgängen begegnet war, genoß das ungeheure Vorrecht, oben den Diaprojektor bedienen zu dürfen, und damit ihn auch niemand übersah, warf er über den Köpfen der Gruppe um den Referenten zu Testzwecken schon einmal das eine oder andere Bild an die Wand.

Fast alle Plätze waren jetzt besetzt. Einige Studenten, die draußen vor der Tür noch schnell eine Zigarette geraucht hatten, drängten von oben herein. Ein dumpfes Gemurmel und einzelne Lacher füllten den Saal. Kurz vor Ablauf des akademischen Viertels schlüpften nun die oberen Dienstgrade der Institutshierarchie durch den Privilegierteneingang und nahmen ihre Plätze ein, sofern sie sich nicht erst zu der Gruppe um den Referenten gesellten, um bis in die letzten Sitzreihen hinauf deutlich zu machen, daß sie auch wirklich anwesend waren oder den Vortragenden sogar persönlich kannten. Auch Roth-mann gehörte zu den Spätankömmlingen. Bevor er sich setzte, flog sein Blick schnell über die Sitzreihen, wohl um festzustellen, ob seine Schützlinge sich eingefunden hatten. Als er Micha und die beiden anderen oben sitzen sah, nickte er zufrieden, schob sich in die Sitzreihe und wandte sich beruhigt der Tafel zu.

Stritzel flitzte herein und nickte allen Bekannten zu. Er beschäftigte sich mit sozialen Insekten, verfügte in Form eines kleinen Vorbaus am Institut sogar über einen Freiflugraum für seine Studienobjekte, und es waren Gerüchte im Umlauf, daß er von den Hornissen, die darin ihr Unwesen trieben, schon mindestens hundertmal gestochen worden war. Gechter, der dürre Pantopoden-Spezialist, betrat nach ihm den Saal. Wie immer ganz unauffällig und bescheiden verzog er sich sofort in die zweite Reihe.

Während Schubert immer häufiger auf die Uhr schaute und der Vortragende sich schon aus der um ihn versammelten Gruppe zurückgezogen hatte, um noch einmal einen letzten Blick auf seine Aufzeichnungen zu werfen, näherte sich der Höhepunkt der Ouvertüre.

Wer würde es diesmal schaffen, als letzter zu erscheinen? Dieser Wettlauf mit umgekehrten Vorzeichen war ein gefährliches Vabanquespiel. Schaffte man es tatsächlich als allerletzter in den Saal zu hetzen, war damit dokumentiert, daß man seine kostbare Arbeitszeit bis zum letzten Moment mit zweifellos höchst bedeutsamer Forschungstätigkeit auszufüllen gewillt war, gleichzeitig den Vortrag des hochgeschätzten Referenten aber um keinen Preis verpassen wollte. Ein beispielgebender Spagat wäre gelungen, eine Verbeugung vor der heiligen Wissenschaft wie eine Respektbezeugung vor dem Vortragenden.

Schaffte man es aber nicht, platzte man mitten in die Vorstellungsworte des Gastgebers oder gar in die Einführung des Referenten, dann manövrierte man sich vor versammelter Mannschaft nicht nur in eine hochnotpeinliche Situation - die besondere Lage des Privilegierteneinganges führte ja dazu, daß man wie auf einer Bühne vor alle Anwesenden trat -, sondern würde spätestens beim nächsten selbst organisierten Colloquium oder der anstehenden Direktoriumssitzung, in der es um die Verteilung der Institutsmittel ging, merken, was man sich eingebrockt hatte.