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Die Diskussion verlief wie üblich. Einige Fragen mutiger Studenten und dann die Monologe von Persigel und Zeugner, den beiden High-Tech-Biologen, die demonstrieren mußten, daß sie über alles und jedes Bescheid wußten. Micha war so damit beschäftigt, sich seine Fragen zu überlegen, daß er fast den Auftritt von Sonnenberg und den darauffolgenden Heiterkeitsausbruch seiner Schönen verpaßt hätte, deren lautes, fast gehässiges Lachen alles andere übertönte.

Dann war es soweit. Schubert beendete das Colloquium. Micha nahm allen Mut zusammen und pirschte sich langsam an Axt heran, der noch damit beschäftigt war, ihm entgegengestreckte Hände von Wissenschaftlern des Instituts zu schütteln.

Als er von links Sonnenberg und darüber, fast in einer anderen Sphäre, ihren Kopf näherkommen sah, verlor er fast den Mut, aber Axt hatte ihn schon bemerkt und sah ihn erwartungsvoll an. Jetzt oder nie.

»Äh, Herr Axt, ich hätte da noch eine Frage«, hörte er sich sagen. Seine Stimme klang in dieser ungewohnten Situation ganz fremd für ihn, wie die Stimme eines anderen Menschen, quäkig, regelrecht unangenehm.

»Ja, bitte, fragen Sie!« erwiderte Axt freundlich, schien aber aus den Augenwinkeln ebenfalls zu verfolgen, wie Sonnenberg und seine Begleiterin auf ihn zusteuerten.

»Dieser Käfer hat mich fasziniert.«

»Der Rüßler?«

»Nein, der andere, der Prachtkäfer.« Sie war jetzt so nahe, daß sie ihn verstehen mußte. Gott, sie war groß, sehr groß, mindestens eins achtzig. Um sie zu küssen, hätte er seinen Kopf nur leicht nach unten beugen müssen, keine lusttötenden Verrenkungen, keine yogareifen Verbiegungen. Und sie müßte den ihren nur leicht in den Nacken legen. Klang es nicht absolut lächerlich, wenn er sich bei Axt nur nach dem Käfer erkundigte?

»Ja, und?« Axt wirkte nervös.

»Wissen Sie zufällig, ob es heute noch ähnliche Formen gibt, ich meine, sehr ähnliche?«

»Oh, da bin ich überfragt. Da müssen Sie einen Entomologen fragen. Soweit ich weiß, sind Sie doch hier in den besten Händen.«

»Ja, natürlich, Sie haben recht. Und ... wie werden diese Insektenfossilien eigentlich aufbewahrt? Ich meine, kann man sie einfach trocknen?«

Eine dumme Frage, eine entsetzlich dumme Frage, und sie konnte sie hören! Wieso fiel ihm nichts Intelligenteres ein?

»Nein, nein.« Axt lächelte nachsichtig. Seine Augen schwenkten flüchtig zu Sonnenberg hinunter, der jetzt direkt neben Micha stand, und es klang so, als ob das folgende eher für den kleinen Paläontologen bestimmt war als für ihn. »Sie werden in Glyzerin aufbewahrt, sonst verblassen die Farben sehr schnell, und die sind ja gerade das Besondere an diesen Stücken. Wissen Sie, mitunter zeigen sogar bergfrische Funde von Vögeln noch deutliche Spuren der Gefiederfärbung. Faszinierend! Wenn man das einmal gesehen hat, vergißt man es nicht so schnell. Es ist fast so, als ob in diesen Fossilien noch ein Rest Leben steckt, der erst nach ihrer Entdeckung wie ein Geist entweicht. Leider ist die Konservierung sehr kompliziert.«

»Vielen Dank!«

»Bitte, bitte«, sagte Axt und wandte sich nun endgültig Sonnenberg zu. Michael brachte es nicht fertig, die direkt hinter Sonnenberg stehende Schwarzhaarige aus der Nähe zu betrachten. Er verspürte einen schmerzhaften Stich. Wieder eine verpaßte Gelegenheit. Feigling, dachte er, elender Feigling.

Er drehte sich mit gesenktem Kopf um, wollte rasch zu seinen wartenden Kollegen zurückkehren und lief direkt in Tobias hinein, der, ohne daß er etwas davon bemerkt hätte, direkt hinter ihm gestanden hatte.

»Huch!« entfuhr es ihm. »Was machst du denn hier?«

»Na, dasselbe wie du, nehme ich an.« Tobias grinste so dämlich, daß Micha ihm am liebsten seinen diamantengeschmückten Vorderzahn eingeschlagen hätte. Aber dann geschah etwas Unfaßbares, und das versetzte ihn in tiefste Depression, die noch tagelang anhalten sollte. Tobias kannte sie.

Während Sonnenberg Axt begrüßte und Micha mit halbem Ohr hörte, wie der kleine Paläontologe sich vorstellte und Axt zu einem Besuch seines Instituts einlud, mußte er mitansehen, wie Tobias ihn stehenließ, auf die dunkelhaarige Schönheit zuging, ihre Hand ergriff und ihr einen Kuß auf die Wange drückte. Auch wenn sie keine Miene dabei verzog, Tobias keinen Millimeter entgegenkam und auch kein Wort sagte, versetzte ihm die bloße Tatsache, daß diese Vogelscheuche, dieses knochige, kantige, abstoßend häßliche Klappergestell ihre Hand schütteln, ihre Wange küssen durfte, einen solchen Tiefschlag, daß er augenblicklich das Weite suchte und nicht mehr mitbekam, wie Axt Sonnenbergs Einladung annahm und die beiden sich für Freitag nachmittag verabredeten.

Halluzinationen

Zwei Tage später ging Micha in die Bibliothek und suchte dort alles über die Grube Messel zusammen, was er finden konnte. Überall in den einschlägigen Büchern prangte ihm dieser Käfer entgegen. Er schien so eine Art Paradebeispiel zu sein. Er glich dem Exemplar, das ihm Tobias geschickt und das er sich mittlerweile noch einmal genau angeschaut hatte, tatsächlich in verblüffender Weise. Natürlich konnte man außer Form und Farbe der Flügeldecken kaum Einzelheiten erkennen, aber Größe, Gestalt und metallischer Glanz des Tieres stimmten genau, sogar die unterbrochenen bronzefarbenen Linien waren deutlich zu erkennen.

Als er in drei weiteren schwergewichtigen Werken Bemerkungen über ein fossiles Seerosengewächs mit dem schönen Namen Barclaya fand, das zu Messeler Zeiten offensichtlich weit verbreitet war und dessen nahe Verwandte noch heute in Südostasien zu finden waren, schwanden ihm die Sinne, und er umfaßte mit aller Kraft die Tischkante seines Lesepultes, um nicht vom Stuhl zu kippen. Mitten im tiefsten Gefühlsdurcheinander spürte er plötzlich eine Hand auf der Schulter, so daß er vor Schreck laut aufschrie und sich ringsumher die von ihrer Lektüre aufblickenden Gesichter der anderen Bibliotheksbenutzer in seine Richtung drehten.

»Na, na, so schreckhaft?« hörte er Claudias tiefe Stimme. Reflexartig klappte er die Bücher zu, die er vor sich auf dem Lesepult ausgebreitet hatte.

»Ach, du hast das!« sagte sie und nahm einen der dicken Wälzer in die Hand. »Das hab ich gerade gesucht.«

»Ja, ich ... ich ...« Verzweifelt suchte er nach einer Erklärung.

»Mann, du siehst ja aus, als ob dir der Leibhaftige persönlich erschienen wäre.« Sie sah ihn besorgt an. »Geht’s dir nicht gut?«

»Doch, doch, alles klar, wirklich. Ich sammle Fossilien, weißt du.«

»Na, da ist doch nichts dran auszusetzen«, erwiderte sie schmunzelnd.

»Na ja, und da habe ich mir eben diese Bücher zusammengesucht.«

»Ist doch in Ordnung!«

»Und außerdem muß ich jetzt weg«, stieß er atemlos hervor, sprang auf und verließ fluchtartig den Lesesaal, ohne sich noch einmal umzuschauen.

O Gott, was soll die jetzt von mir halten, dachte er und mußte unten auf der Straße mit Gewalt den Impuls bekämpfen, wieder umzudrehen. Aber was sollte er ihr sagen? Er hatte sich so ungewöhnlich verhalten, daß jede Erklärung alles nur noch schlimmer gemacht hätte. Die Wahrheit konnte er ihr kaum erzählen, sonst hätte sie ihn für völlig übergeschnappt gehalten.

Aber was war eigentlich die Wahrheit? Das Ganze nahm so absurde Züge an, daß das Wort Wahrheit in diesem Zusammenhang unangebracht schien. Im Kino hätte er das alles sicher sehr komisch gefunden, genau die Art realitätssprengender Phantastik, die ihm gefiel, zack, ein klaffender Spalt, ein Riß in der Welt und dahinter etwas völlig Neues, Unbekanntes, aber, verdammt noch mal, das hier war kein Film, eher schon eine besonders hinterhältige Form von Alptraum, ein böser Flashback halluzinogener Drogen, nur daß er keine Drogen genommen hatte. Immerhin wäre das eine halbwegs vernünftige Erklärung gewesen.