In ihm war eine absurde Idee aufgestiegen, so aberwitzig, daß ihm schwindlig davon wurde. Tobias, seine fixe Idee von der Reise in die Urzeit, damals, als sie noch Kinder waren, dieses ganze Theater um den Käfer und die mitgebrachte Pflanze und die widersprüchlichen Ergebnisse, die seine und Claudias Nachforschungen ergeben hatten. All diese verwirrenden Ereignisse der letzten Wochen schienen plötzlich einen völlig verrückten, absolut unmöglichen Sinn zu geben.
Er beschloß, zu Fuß zum Institut zurückzulaufen, um in der kalten Herbstluft etwas Ordnung in sein gedankliches Chaos zu bringen. Wie eingesponnen in einen Kokon düsterster Traumwelten, lief er los, ungefähr in die Richtung, wo er sein Institut vermutete, das zwei U-Bahnstationen entfernt lag. Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen, achtete kaum darauf, was um ihn herum vorging, wählte an Kreuzungen, ohne groß nachzudenken, die eine oder andere Richtung und stellte irgendwann fest, daß er sich verirrt hatte.
Die Freie Universität mit ihren zahllosen Instituten und sonstigen Einrichtungen lag über ein großes Areal verstreut, ein Wirrwarr von kleinen Straßen mit rätselhaften Namen wie Im Dol oder Im Schwarzen Grund und niedlichen Parkanlagen mit kleinen Teichen und gepflegten Blumenrabatten, eine der besten Wohnlagen Berlins, eine ausgedehnte Gartenstadt mit hochherrschaftlichen, weinlaubüberwucherten Villen und schmucken Einfamilienhäusern, und manche davon entpuppten sich bei näherem Hinsehen als Institute der Universität.
Die Straßen, durch die er jetzt lief, waren ihm völlig unbekannt und menschenleer, so daß er auch niemanden fragen konnte. Wirklich beunruhigend war seine Lage freilich nicht, denn irgendwo würde er sicher auf eine Buslinie treffen, die ihn wieder in vertrautere Gefilde zurückbefördern konnte, aber in seinem Zustand hochgradiger Erregung mußte er bald gegen Panikgefühle ankämpfen. Sein Gang wurde schneller, ausgreifender und immer wieder blickte er gehetzt um sich, weil er meinte, Schritte gehört zu haben. Außerdem hoffte er, in irgendeinem der Vorgärten jemanden zu finden, den er nach dem Weg fragen konnte.
Plötzlich sah er eine zierliche Gestalt, die auf einen Stock gestützt aus der Tür eines weit zurückgesetzt stehenden Hauses trat und sich umblickte, irgendein pensionierter Arzt oder Anwalt, der sich hier zur Ruhe gesetzt hatte, und mal ein bißchen frische Luft schnappen wollte, dachte Micha. Er öffnete den Mund, um ihm etwas zuzurufen, da trat eine zweite, wesentlich größere Gestalt aus dem Haus, ein dürrer Mensch, ein Strich in der Landschaft, der ihm seltsam bekannt vorkam.
Micha kauerte sich instinktiv hinter einen der Steinpfeiler, die an beiden Seiten die Grundstücksauffahrt flankierten, als er in einem schmerzhaften Moment des Erkennens begriff, daß er diese Person tatsächlich kannte. Er spürte, wie das Blut in seinen Adern pochte, so laut, daß er meinte, jeder im Umkreis von zwei Kilometern müßte es hören, insbesondere die beiden, die jetzt vor dem Haus in der herbstlichen Sonne standen und sich unterhielten. Es war Tobias, Tobias Haubold, der Grund für seinen desolaten Seelenzustand, und nun erkannte er auch, mit wem er sprach. Es war Sonnenberg, der spitzbärtige Paläontologe.
Als wäre er gerade einem blutlüsternen Monster begegnet, verbarg er sich, mit dem Rücken gegen den Pfeiler gepreßt, und atmete mit weit aufgerissenen Augen tief durch. An einen Zufall konnte er nicht mehr glauben. Da irrte er hier verloren durch diese gottverlassene Gegend und lief ausgerechnet den beiden in die Arme. Nichts lag ihm ferner, als aus seinem Versteck zu treten und auf sie zuzugehen.
Das Ganze kam ihm plötzlich wie ein teuflisches Komplott vor, eine von langer Hand geplante Intrige, die er nicht verstand. Wie in diesen alten Hollywoodstreifen, wo reiche Frauen durch Schritte auf Treppen und Dachböden, durch flackernde Lampen oder mysteriöse Anrufe von ihren Ehemännern in den Wahnsinn getrieben werden. Seine Hände preßten sich gegen das kalte, rauhe Gestein des Pfeilers, rieben darauf auf und ab. Der Schmerz, den er dabei verspürte, brachte ihn wieder etwas zur Besinnung.
Was taten die beiden da? Tobias kannte also nicht nur diese Schwarzhaarige, sondern auch den Professor, und offensichtlich ganz gut, denn als er jetzt vorsichtig an dem Pfeiler vorbei zum Haus schaute, sah er, wie Sonnenberg väterlich auf den Rücken seines Schulfreundes klopfte, als wolle er ihn zu irgend etwas ermuntern.
Schnell verbarg Micha sich wieder hinter dem Pfeiler. Plötzlich fühlte er mit der rechten Hand statt des rauhen Gesteins eine glatte, kalte metallische Fläche. Er fuhr herum und schaute zu seiner grenzenlosen Verblüffung auf ein in Brusthöhe angebrachtes Blechschild, das dieses Haus als Teil der Universität auswies.
Institut für Paläontologie der
Freien Universität Berlin
Kurz darauf hörte er knirschende Schritte die Auffahrt entlang näherkommen. Er überlegte nicht lange, sondern rannte, hinter die niedrige Hecke geduckt, so schnell er konnte, davon. Er kam sich vor wie ein Einbrecher auf der Flucht, aber er hörte nicht auf zu rennen, immer weiter die menschenleeren, mit Herbstlaub bedeckten Alleen entlang, so lange, bis sich seine Kehle durch die angesogene kalte Luft anfühlte, als hätte er mit Salzsäure gegurgelt. Schwer atmend stützte er sich mit beiden Armen auf seinen Knien ab und sah, wie die Schweißtropfen von seiner Stirn auf den Boden tropften.
Als sein Puls sich beruhigt hatte, schien sich zögernd auch sein Verstand zurückzumelden. Er benahm sich wie ein Wahnsinniger, wie ein paranoider Irrer, dem langsam der Bezug zur Realität entglitt.
Er lief in normaler Geschwindigkeit weiter und stand wenige Minuten später vor der vertrauten U-Bahnstation Dahlem Dorf, die sich aus der Wüste um ihn herum wie eine üppig blühende Oase zu materialisieren schien.
Anstatt ins Institut zu gehen, wie er es ursprünglich vorhatte, fuhr er nach Hause, warf sich dort auf seine Matratze und blieb minutenlang liegen, die Hände vor das Gesicht gepreßt.
In was war er da hineingeraten? Alles wegen dieses dämlichen Typen, dieser plötzlich wie ein Zombie aus grauer Vergangenheit, aus tiefstem Vergessen aufgetauchten Spukgestalt. Drehte er jetzt durch oder was? Das konnte doch alles unmöglich wahr sein. Glücklicherweise waren seine beiden Mitbewohner nicht zu Hause. So, wie er aussah, hätten die noch den Notarzt gerufen.
Er raffte sich auf, ging in die Küche und kochte sich einen Tee. Eine halbe Stunde später lag er in der dampfenden Badewanne, auf einem Holzbrett, das quer über seiner Brust auf dem Wannenrand lag, stand eine große Tasse dampfenden Tees, und von seiner auf dem weißen Emaillerand liegenden Hand kringelte sich der Rauch einer Zigarette hoch zur Badezimmerdecke. Langsam verließ ihn das Gefühl, nur mit knapper Not einem Alptraum entkommen zu sein.
Daß Tobias Sonnenberg kannte, erschien ihm nun gar nicht mehr ungewöhnlich. Er studierte Geologie und interessierte sich für Fossilien. Das hatte er schon damals getan, als sie so auf diesen Film abgefahren waren. Was lag da näher, als sich dem hiesigen Paläontologen anzuschließen. Vielleicht beabsichtigte er sogar, sich darauf zu spezialisieren, ein völlig normales, ja, geradezu vorbildliches und weitsichtiges Verhalten, das bei jedem Studienberater helle Begeisterung ausgelöst hätte.
Nein, er hatte sich verhalten wie ein kompletter Idiot, und es war an der Zeit, die Sache aus der Welt zu schaffen.
Der Lazaruseffekt
»Entschuldigen Sie bitte die kurze Unterbrechung«, sagte Sonnenberg, als er zurück in sein Zimmer gehumpelt kam.
»Ein Mitarbeiter von Ihnen?« Axt fragte nur halbherzig. Er wußte gar nicht, wie lange Sonnenberg draußen mit dem jungen Besucher gesprochen hatte, einer auffallend dürren Gestalt, mit der er sich schon nach seinem Vortrag im Zoologischen Institut kurz unterhalten hatte. Seine Aufmerksamkeit wurde ganz von einem in Kunstharz eingeschlossenen Käfer in Anspruch genommen, den er auf einem Papierstapel entdeckt hatte. Er stand über das Präparat gebeugt neben Sonnenbergs Schreibtisch, als dieser wieder den Raum betrat.