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»Nein, nein, ein Student«, antwortete er. »Einer meiner besten. Aber ich sehe, Sie haben meinen Prachtkäfer entdeckt.«

Er schloß die Tür hinter sich.

»Ein erstaunliches Tier!«

»Nicht wahr?« Sonnenberg ließ sich mit einem Schnaufen auf seinem Sessel nieder und schaute seinen Gast freundlich an. »Ich dachte mir schon, daß er Ihnen gefällt.«

»Sie meinen, weil er unserem Messeler Käfer so ähnlich sieht? Darf ich?«

Sonnenberg nickte und beobachtete schmunzelnd, wie sein Gast nach dem zigarettenschachtelgroßen Harzblock griff und ihn von allen Seiten eingehend betrachtete.

»Diese Ähnlichkeit ist .« Axt schüttelte verwirrt den Kopf.

»Verblüffend?«

»Hm .« Verblüffend war gar kein Ausdruck. Das hier war eindeutig kein Fossil, aber es glich dem Messeler Prachtkäfer wie ein Ei dem anderen. Anders als bei seinem frühtertiären Gegenstück konnte man an diesem Tier allerdings auch die Unterseite erkennen, die mit goldig glänzenden Härchen übersät war. Die sechs Füße endeten jeweils in einem kräftigen Krallenpaar. Außerdem war er wesentlich größer.

»Er stammt aus Mittelamerika, Panama, Costa Rica, Nicaragua«, erläuterte Sonnenberg. »Ist sogar ziemlich häufig dort. Ich war so begeistert, als ich ihn fand, daß ich ihn unbedingt mitnehmen mußte.«

»Das kann ich verstehen«, sagte Axt, noch immer wie hypnotisiert von dem ungewöhnlichen Tier. Er legte den Block zurück auf den Papierstapel, ohne aber seine Augen davon lösen zu können. Ein seltsames Gefühl, ein leichter eiskalter Schauder, strich wie ein Windstoß über seinen Körper. Noch nie hatte er ein heute lebendes Tier gesehen, das seinen 50 Millionen Jahre alten Verwandten aus dem Messeler Eozän so ähnlich sah. Er erschrak fast ein bißchen. Es war, als strecke diese Zeit, mit der er sich so intensiv beschäftigte, die Hand nach ihm aus, als gäbe es plötzlich eine Art Verbindung zwischen dem Jetzt und jener Vergangenheit, die unendlich lange her zu sein schien und doch nur den Beginn des jüngsten und vorläufig letzten der drei Erdzeitalter markierte.

»Wissen Sie, es ist seltsam«, sagte Axt. »Vorgestern, nach meinem Vortrag, kam ein junger Mann zu mir und fragte, ob es denn heute noch so ähnliche Formen gäbe wie damals zu Messeler Zeiten, und er meinte genau diesen Prachtkäfer hier. Sie müßten ihn eigentlich gesehen haben. Er stand direkt neben Ihnen.«

»Ach wirklich?« Sonnenbergs Schmunzeln verschwand.

»Ja, wenn ich das gewußt hätte, ich meine, wenn ich Ihren Käfer hier vorher gekannt hätte ... aber ich hatte ja keine Ahnung.«

»Tja«, Sonnenberg lehnte sich in seinem Sessel zurück und schlug das gesunde Bein über das andere, »was wissen wir schon über die wirkliche Lebensdauer der Tier- und Pflanzenarten.«

»Sie wollen doch nicht behaupten, daß es sich bei dem Messeler Prachtkäfer und diesem hier um dieselbe Art handelt? Bei aller Ähnlichkeit, aber ...«

Sonnenberg zog die buschigen Augenbrauen hoch. »Lieber Dr. Axt, was für eine Frage? Einen Test auf fruchtbare Kreuz-barkeit werden wir mit diesen beiden Exemplaren wohl kaum zustande bringen. Ein 50 Millionen Jahre altes Fossil, etwas lädiert, und eine in Kunstharz steckende Käferleiche, was soll dabei wohl herauskommen?« Als er fortfuhr, war von seinem spöttischen Unterton nichts mehr zu hören. »Obwohl diese Teufelskerle in der Genetik vielleicht etwas damit anfangen könnten, meinen Sie nicht? Wenn sich in Ihrem Messeler Käfer noch etwas DNS findet, ließe sich diese Frage schnell beantworten. Außerdem, wenn Sie sich einmal die damalige Lage der Kontinente anschauen, ist es ja durchaus denkbar, daß es auch in der Insektenwelt zu einem Austausch gekommen ist. Die große Ähnlichkeit der Säugetierfaunen von Nordamerika und Europa im frühen Eozän ist ja bekannt. Es gab die Beringstraße und diverse Verbindungswege über den Nordatlantik.«

»Aber das hier ist eine tropische Art«, warf Axt ein. »Sie konnte wohl kaum über den Nordpol wandern, auch wenn es damals wesentlich wärmer war als heute. Außerdem, eine Insektenart, die 50 Millionen Jahre nahezu unverändert überlebt hat und noch dazu an einem ganz anderen Ort, als die fossilen Urkunden vermuten lassen, das wäre ein starkes Stück.«

»Na und?« Aus den Augen des kleinen Paläontologen sprühten winzige Funkenfontänen. »Die ganze Erdgeschichte ist ein starkes Stück, da werden Sie mir ja wohl kaum widersprechen. Ich bin fest davon überzeugt, daß wir noch ganz am Anfang stehen und gerade erst beginnen, die wirklichen Phänomene und Gesetzmäßigkeiten der Evolution auszumachen. Der gute alte Darwin hat uns ganz grob den Weg gewiesen. Und mein Vertrauen in die Angaben, die bisher über die Lebensdauer der Organismenarten gemacht wurden, ist äußerst begrenzt.«

»Natürlich gibt es da beträchtliche Unsicherheiten«, räumte Axt ein. Ohne daß er es wollte, schwenkten seine Augen immer wieder zu dem eingeschlossenen Prachtkäfer zurück, und er war nur mit halbem Ohr bei der Sache. Hatte dieses Tier wirklich 50 Millionen Jahre überlebt? Vielleicht war es sogar noch wesentlich älter. Es gab ja solche Fälle. Der Rückenschaler Triops cancriformis, ein heute in vielen Tümpeln lebender Krebs, war die älteste bekannte Tierart der Welt. Fossilien aus dem frühen Erdmittelalter, dem Trias, nicht weniger als 180 Millionen Jahre alt, waren von der heutigen Form nicht zu unterscheiden. Offenbar gab es Tiere und Pflanzen, an denen sich die Evolution die Zähne ausbiß.

»Unsicherheiten nennen Sie das?« stieß Sonnenberg aus. »Ich nenne es schlicht Unwissenheit. Wir haben einfach keine Ahnung. So ist doch die Situation. Denken Sie doch nur an die Lazarusarten, die Quastenflosser zum Beispiel. Diese Fische seien seit 90 Millionen Jahren ausgestorben, hieß es immer.

Und dann kommen eine Frau Courtenay-Latimer und ein Herr Smith, finden einen seltsamen Tiefseefisch, und die Lücke ist geschlossen. 90 Millionen Jahre lang haben die Quastenflosser keinerlei fossile Überreste hinterlassen, und wir sind darauf hereingefallen. Ach, wußten Sie übrigens, daß diese Tiere auf den Komoren schon seit Generationen bekannt sind. Die Leute dort nennen sie Kombessa und mögen die Quastenflosser nicht besonders, weil sie bestialisch stinken, nur traniges Fleisch liefern und außerdem extrem zählebig sind. Kein Wunder bei dem Alter, was? Die Fischer können mit diesen Tieren so gut wie nichts anfangen. Das einzige, was sie verwenden, sind die großen Schuppen der Fische. Und was glauben Sie wohl, was sie damit machen? Halten Sie sich fest! Sie benutzen sie zum Aufrauhen ihrer Fahrradschläuche. Ist das nicht komisch? Vielleicht sollten wir, statt überall alte Steinbrüche zu durchwühlen, lieber die Werkzeugtaschen der Menschen durchsuchen. Wer weiß, was wir auf diese Weise noch an lebenden Fossilien zu Tage befördern könnten.«

Sonnenberg begann heiser zu lachen, und Axt lachte mit, obwohl er eigentlich eher befremdet war und darüber nachdachte, was sein Gastgeber da behauptet hatte.

»Wir wissen doch über die Lebensdauer vieler Tiergruppen sehr gut Bescheid«, sagte er, als Sonnenberg sich wieder beruhigt hatte. »Ich weiß gar nicht, was Sie daran bemängeln. Simpson hat das doch in beeindruckender Weise zusammengestellt. Die Lebenserwartung einer Muschelgattung betrug etwa 80, die von Ammoniten etwa 8, von Armfüßern 20 Millionen Jahre. Die Evolution der Säuger verläuft schneller. Eine Säugetiergattung überlebt durchschnittlich nur 5 Millionen Jahre, einzelne Arten leben sogar noch kürzer, nur ein oder zwei, maximal 8 Millionen Jahre.«

»Ja ja, ich kenne diese Zahlen.« Sonnenberg winkte geringschätzig ab und schüttelte den Kopf. »Und wenn ich ihnen nun sage, daß ich davon so gut wie nichts halte? Da stimmt so vieles nicht. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Das Beispiel des Quastenflossers zeigt es doch. Was ist mit Neopi-lina, der kleinen Schnecke? Ähnliche Schalen kannte man schon aus dem Kambrium, über 500 Millionen Jahre alt, und man glaubte, die Tiere seien seit dem Oberen Devon ausgestorben, also seit mehr als 400 Millionen Jahren. Aus dieser ganzen unendlich langen Zeitspanne, das sind wohlgemerkt mehr als zwei Drittel des Zeitraumes, in dem überhaupt höheres Leben auf der Erde existierte, hat sich nicht das geringste Fossilchen dieser Tiere erhalten, nicht die kleinste Schale. Also haben wir sie für tot erklärt, für ausgestorben, bis die GalatheaExpedition sie vor ein paar Jahren wieder aus der Tiefe geholt hat. 400 Millionen Jahre lang hat Neopilina irgendwo überlebt, und wir hatten nicht die geringste Ahnung davon. Das sagt doch eigentlich alles, oder?«