»Und? Worauf wollen Sie eigentlich hinaus, Professor?« Axt wurde langsam etwas ungehalten. Ihm war noch niemals ein Paläontologe begegnet, der so wenig von seiner eigenen Wissenschaft hielt. Er hatte dem Treffen mit Sonnenberg schon mit etwas gemischten Gefühlen entgegengesehen, aber daß es jetzt einen solchen Verlauf nahm, überraschte ihn doch sehr. Mochte Sonnenbergs Frage nach den Primatenfunden in Messel noch so unverfänglich gemeint gewesen sein, Axt steckte sie noch immer in den Knochen. Er war machtlos dagegen, auch wenn er sich natürlich sagte, daß Sonnenberg nichts dafür konnte und die Frage als solche durchaus berechtigt war. Aber er hatte nicht damit gerechnet, daß er sich hier stellvertretend für seinen ganzen Berufsstand würde rechtfertigen müssen. Schließlich war Sonnenberg keiner dieser modernen Systematiker, die gut reden hatten bei der Fülle an Datenmaterial, mit dem sie ihre Analysen stützen konnten. In deren Augen waren Paläontologen wie er unwissenschaftliche Scharlatane, Opfer eines tragischen Selbstbetruges. Aber Sonnenberg war ein Kollege, einer von ihnen.
»Sollen wir einpacken, das Denken einstellen, unsere Museen dichtmachen?« fragte Axt. »Glauben Sie, daß es gar keine Evolution gegeben hat und die Erde im Grunde von Neopilinas und Quastenflossern nur so wimmelt, wenn wir uns einmal die Mühe machen und richtig nachschauen würden? Ich verstehe Sie nicht. An der Lückenhaftigkeit der Fossilüberlieferungen wird sich wohl auch in Zukunft wenig ändern, und wenn wir unsere Wissenschaft weiter betreiben wollen, werden wir uns damit abfinden müssen. Das können Sie doch nicht ernsthaft der Paläontologie anlasten.«
»Das nicht, nein, aber wenn sie aus einem mangelhaften Datenmaterial zu weitreichende Schlüsse zieht, das kann ich ihr vorwerfen. Aber Sie haben recht. Ich muß mich entschuldigen. Manchmal schlage ich über die Stränge. Ich neige zu Extrempositionen innerhalb unserer Wissenschaft, ich weiß. Verstehen Sie, mich ärgert diese hochnäsige Sicherheit, die von vielen Kollegen immer wieder verbreitet wird. Meiner Meinung nach ist nichts sicher, oder jedenfalls sehr wenig. Daß eine Evolution stattgefunden hat, gehört, um Ihre Frage gleich zu beantworten, sicherlich dazu. Ich bin kein Kreationist. Viel weiter darüber hinaus reicht unser Wissen allerdings nicht. Ich kann’s nicht ändern.« Er sah seinen Gast lächelnd an.
»Warten Sie!« Sonnenberg stemmte sich aus seinem Sessel, öffnete im Stehen die Tür eines einfachen Holzschrankes, der neben dem Schreibtisch in der Ecke des Raumes stand, und entnahm ihm eine Flasche und zwei Gläser. »Ein wunderbarer Grappa. Vielleicht wirkt der etwas beruhigend auf unsere Gemüter«, sagte er, lachte und prostete seinem Gast zu.
»Auf daß es immer weiter vorangehe mit unserer faszinierenden Wissenschaft«, sagte er.
Axt akzeptierte das Versöhnungsangebot. »Ah, Sie sehen doch noch eine Chance, daß die Paläontologie Ihren Ansprüchen gerecht werden könnte? Das freut mich. Prost!«
»Wissen Sie«, nahm Sonnenberg das Gespräch wieder auf, »ich halte die Frage nach dem Evolutionstempo für sehr entscheidend. Ich muß Ihnen ja nicht erläutern, welche weitreichenden Spekulationen unsere amerikanischen Kollegen auf der Tatsache aufgebaut haben, daß sich in vielen Entwicklungslinien über lange Zeiträume hinweg offensichtlich kaum etwas verändert hat, während andererseits die wirklichen Neuheiten stets sehr plötzlich auf der Bildfläche erschienen sind. Hatten Sie schon einmal Gelegenheit, sich die einzelne Solnhofer Archaeopteryx-Feder aus der Nähe anzuschauen?«
Axt schüttelte den Kopf. »Leider nein. Ich kenne nur die Fotografien. Sie ist sicher sehr eindrucksvoll.«
»Absolut faszinierend, die erste Feder, die wir überhaupt kennen, und bereits perfekt bis in alle Einzelheiten, als stamme sie von einer modernen Taube. Und davor gab es nichts Vergleichbares, nur Reptilienschuppen. Es ist doch seltsam, daß ausgerechnet wir Paläontologen zu den schärfsten Kritikern des Darwinismus geworden sind, nicht wahr? Dabei sollte es doch eigentlich umgekehrt sein.«
Er richtete sich auf und schenkte nach. Axt wollte erst ablehnen, willigte dann aber ein. Der Grappa war wirklich nicht schlecht.
»Und trotzdem glauben die Gradualisten, zu denen ich mich im übrigen nicht zähle«, bekannte Sonnenberg, »durch immer wieder neue Berechnungen und Argumente zeigen zu müssen, daß der langsame, kontinuierliche Wandel der Organismenarten, wie Darwin ihn gesehen hat, die ganze Vielfalt des Lebens auch ohne größere Sprünge hervorbringen konnte. Finden Sie nicht, daß das krampfhafte Festhalten an diesen alten Anschauungen auch etwas Verzweifeltes an sich hat? Sie ertragen einfach die Unsicherheit nicht.« Er sah Axt an und fuhr fort, als dieser keine Anstalten machte, seine Frage zu beantworten. »Entscheidend sind immer die Anfangs- und Endpunkte einer Tierart, Geburt und Tod gewissermaßen, und Sie werden mir sicherlich nicht widersprechen, wenn ich sage, daß unser Wissen in dieser Hinsicht noch sehr unbefriedigend ist.«
»Natürlich. Das herauszufinden, dachte ich, sei unter anderem Aufgabe unserer Wissenschaft.«
»Ah, Sie haben mich falsch verstanden, ich meine nicht die Art und Weise, wie neue Arten entstehen und wieder untergehen, sondern ich meine das Problem, woran wir das Erscheinen einer neuen Art oder Verschwinden einer alten überhaupt festmachen können. Wo wollen Sie innerhalb eines Kontinuums Grenzen ziehen?«
»Sie meinen, wie wir unsere Arten definieren?« fragte Axt und mußte innerlich stöhnen. Das war ja ein uralter Hut. Allerdings ein durchaus umstrittener, das mußte er zugestehen. Sonnenberg hatte sich für ihr Treffen offensichtlich ein Art Generalabrechnung vorgenommen. Leider war er dazu ganz und gar nicht in der richtigen Stimmung. Seine Gründe, an der Paläontologie zu zweifeln, waren momentan anderer Art. Sie waren etwa einen Meter achtzig lang und ruhten im Keller der Messeler Senckenberg-Station. Er schaute kurz auf Uhr.
»Ganz genau.« Sonnenberg nippte an seinem Glas und schmunzelte wieder in sich hinein. Axt fühlte sich irgendwie provoziert. »Sie sagten vorhin, eine Muschelart hätte bisher in der Erdgeschichte etwa die zehnfache Lebenserwartung einer Säugetierart gehabt. Diese Angaben stehen und fallen doch mit der Definition der Anfangs- und Endpunkte der betrachteten Spezies.«
»Sicher. Da wir keine Kreuzungsexperimente durchführen können, sind wir dabei allein auf die Morphologie angewiesen. Das ist unbefriedigend, aber nicht zu ändern. Abgesehen davon, daß sie uns die theoretischen Schwierigkeiten erleichtern würden, hätten solche Kreuzungsexperimente allerdings auch kaum Sinn. Ein Tier hat in der Realität nur wenig Aussichten, sich mit seinen stammesgeschichtlichen Vorläufern zu paaren. Wir betrachten ein Lebewesen daher erst dann als neue Art, wenn es sich morphologisch in ausreichendem Maße von seinen Vorgängern unterscheidet, so daß ein neuer Name gerechtfertigt erscheint.«
»Sehen Sie, und genau da liegt der Hase im Pfeffer. In der Regel stehen uns für unsere Untersuchungen ja nur die Hartteile, die Skelette, zur Verfügung. Ehe Sie protestieren: Ich weiß, daß Ihre Messel er Fossilien da eine faszinierende Ausnahme darstellen. Aber, was glauben Sie wohl, auf wie viele Spezies unsere heute lebenden knapp neuntausend Vogelarten zusammenschrumpfen würden, wenn man ihren Kadavern alle Federn ausrisse, säuberlich das Muskelgewebe entfernte und das übriggebliebene, vielleicht noch von einer Presse plattgedrückte Skelett den Experten zur Bestimmung vorlegen würde? Was glauben Sie: Wie viele blieben übrig? Die Hälfte, ein Zehntel? Wie viele Arten von Darwinfinken gäbe es wohl für die Wissenschaft, wenn wir nur ihre Skelette kennen würden und aus irgendeinem Grunde sämtliche Schnäbel fehlten? Wie wollten Sie Fitislaubsänger und Zilpzalp auseinanderhalten, die sich praktisch nur im Gesang unterscheiden und doch streng getrennte Arten sind?« Sonnenberg lehnte sich zurück und machte einen zufriedenen Eindruck. »Und wenn Sie schon damit ihre liebe Mühe hätten, wie wollen Sie dann anhand der fossilen Überreste Arten unterscheiden, die auseinander hervorgegangen sind, sich also zwangsläufig noch sehr, sehr ähnlich sind. Wie wollen Sie da eine Grenze ziehen? Woher wollen Sie andererseits wissen, ob anatomisch identische Fossilien nicht doch streng getrennten Arten entstammen, die eine vielleicht nachtaktiv, die andere tagaktiv, die eine eine Frühjahrsart, die andere eine Herbstart, Tiere, die sich in der Natur kaum jemals begegnen? Dafür gibt es heute doch Hunderte von Beispielen. Was ist mit der beträchtlichen Variation innerhalb der Arten, mit den Geschlechtsdimorphismen? Was ...«