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Gegen Ende wurde Tobias immer nervöser. Wahrscheinlich spürte er, daß er mit seinen haarsträubenden Geschichten nicht bis zu seinem alten Schulfreund durchdrang. Micha schüttelte bei alldem nur immer wie unter Zwang den Kopf.

Nein, dazu würde Tobias ihn nie überreden können. Er war kein kleiner Junge mehr, der voller Begeisterung nach seinen Hirngespinsten griff, weil ihm selber nichts einfiel.

Aber abgesehen von dem Käfer und der Seerose und dem ganzen Unsinn mit der Reise in die Urzeit, gab es da noch etwas, das Micha brennend interessierte. Es fiel ihm schwer, Tobias danach zu fragen, aber es mußte einfach sein.

»Sag mal, noch was ganz anderes, diese Schwarzhaarige ...«

»Welche Schwarzhaarige?«

»Na die, die du neulich begrüßt hast, bei dem Colloquiumsvortrag. Sie war mit diesem Gartenzwerg da.«

»Ach, du meinst Ellen, Sonnenbergs Assistentin.«

»Das ist seine Assistentin?« Micha war verblüfft, ohne so recht zu wissen, warum. Es lag ja eigentlich nahe.

»Ja, warum nicht? Meinst du, sie sieht zu gut aus dafür?«

»Was? Nein, natürlich nicht, ich meine .«

»Na ja, sag doch, was du meinst!« In seine Augen trat ein lauernder Ausdruck. »Du bist scharf auf sie.«

»Quatsch, ich hab sie doch nur einmal gesehen.«

»Tu nicht so! Einmal reicht. Alle sind scharf auf sie.«

»Und .«

»Was und?« Tobias sah ihn forschend an, und Micha verfluchte sich schon, daß er überhaupt nach ihr gefragt hatte.

»Du willst wissen, ob ich etwas mit ihr habe, stimmt’s? Du, laß die Finger von ihr. Sie ist ein Eisblock, wunderschön, aber kalt und steif wie ein Brett.«

»Na, hör mal. Da hatte ich aber einen ganz anderen Eindruck.«

»Ja, ja, ich kenn das. Du brauchst mir nichts zu erzählen. Ich will dich nur warnen. An der hat sich schon der halbe Campus die Zähne ausgebissen.«

»Aber du nicht, oder wie?«

Tobias setzte ein derart widerliches, selbstverliebtes Grinsen auf, daß Micha ihn am liebsten gepackt und in diese Regale voller pubertärer Scheußlichkeiten geschleudert hätte. Hatte er sich dieses Grinsen angewöhnt, seit er den bescheuerten Diamanten im Zahn hatte?

»Wenn du es unbedingt genau wissen willst«, sagte Tobias, und jedes einzelne Wort traf Micha wie ein glühendes Eisen, »wir haben einmal zusammen geschlafen, vor ein paar Monaten, aber ich kann nicht gerade behaupten, daß es eine besonders beglückende Erfahrung war.«

Lügner! dachte Micha. Lügner, Lügner, Lügner. Der Kerl log doch, wenn er das Maul aufmachte. Entweder das Ganze war ein einziges Hirngespinst, Angeberei der schlimmsten, der lächerlichsten Sorte, oder es war ihm schon gekommen, als sie ihn nur einmal scharf anguckte und sich mit der Zunge die Lippen befeuchte. Verdammt, er mußte raus hier.

Tobias rief ihm im Treppenhaus noch hinterher, daß er sich sein Angebot überlegen solle, daß er schwöre, nur die Wahrheit gesagt zu haben.

In der Folge entwickelte das, was Tobias ihm erzählt hatte, ein fatales Eigenleben, weniger das mit Ellen, davon glaubte er kein Wort, sondern das andere, diese verrückte Reise, die er mit ihm unternehmen sollte. Er konnte an nichts anderes mehr denken, hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, schlief, von Alpträumen und Schreckensvisionen verfolgt, miserabel, und selbst seine besten Freunde fühlten sich bald vernachlässigt, weil er sich kaum noch bei ihnen meldete. Zweimal ging er abends mit Claudia aus, in der vergeblichen Hoffnung, das könne ihn etwas ablenken. Beim zweiten Mal landeten sie sogar bei ihm zu Hause auf dem Bett, brachen ihre Bemühungen aber bald ab, weil er mit seinen Gedanken ganz woanders war. Claudia war ziemlich sauer, als sie ging.

Das schlimmste war, daß er mit niemandem reden konnte. Wem sollte man eine solche Geschichte schon auftischen, ohne Mitleid oder schallendes Gelächter zu ernten. Zwei-, dreimal rief Tobias an, wohl um ihn weiter zu bearbeiten, aber Micha legte möglichst schnell wieder auf, weil diese Telefonate das bißchen Stabilität, das er sich in der Zwischenzeit aufgebaut hatte, wieder zusammenbrechen ließen wie ein wackliges Kartenhaus.

Mit der Zeit wurde ihm aber klar, daß es nur eine Möglichkeit gab, diesem Alptraum ein Ende zu setzen. Er mußte auf Tobias’ Ansinnen eingehen und mit ihm zu dieser verfluchten Höhle reisen. Nur dort, in der Höhle des Löwen sozusagen, konnte er Tobias und sich selbst beweisen, daß die Welt noch so war, wie sie ihm bis vor kurzer Zeit erschienen war, chaotisch zwar, völlig außer Rand und Band und mit Karacho der sicheren Apokalypse entgegenschlingernd, aber doch nicht so verrückt, als daß in ihr irgendwelche obskuren Schlupflöcher in längst vergangene Erdzeitalter Platz gehabt hätten.

»Is ja super, Mann! Wahnsinn!« rief Tobias, als er ihm seinen Entschluß am Telefon mitteilte. Er war völlig aus dem Häuschen.

»Hör zu, erwarte bitte keine allzu große Begeisterung von mir«, versuchte Micha seine Euphorie zu bremsen. »Ich brauche Klarheit, verstehst du, sonst drehe ich durch.«

»Klar, Micha, versteh ich vollkommen. Aber wir müssen uns langsam ranhalten. Es gibt jetzt unendlich viel zu besprechen.«

Da hatte er wahrscheinlich recht, denn sie hatten mittlerweile Mitte Dezember. Wenn sie die Sache in den kommenden Semesterferien hinter sich bringen wollten, und dazu war er fest entschlossen, er wollte diese Angelegenheit so schnell wie möglich aus der Welt schaffen, dann blieben ihnen gerade noch zwei Monate für die Vorbereitung dieses Unternehmens. Wahrscheinlich war es ziemlicher Wahnsinn, Mitte Februar in die Slowakei fahren zu wollen, aber es mußte jetzt bald geschehen. Bis zum Sommer zu warten, war für ihn eine unerträgliche Vorstellung. Und Tobias war begeistert von seinem plötzlichen Elan. Tatsächlich verschaffte Micha diese Entscheidung etwas Erleichterung, so als hätte er nach längerer Verstopfung endlich einmal wieder auf der Toilette gesessen.

Er traf sich nun regelmäßig mit Tobias, um die Einzelheiten zu besprechen, wer sich um was zu kümmern hatte, wer Zelt, Kochgeschirr, Lebensmittel, Fotoausrüstung, und was man sonst so für eine Reise in die Urzeit brauchte, besorgen sollte und so weiter. Insgesamt planten sie etwa sechs bis acht Wochen ein. Hin und wieder fand Micha sogar zu seinem Humor zurück, aber es war ein böser, sarkastischer Humor, und manchmal stand er vor dem Spiegel, schaute in sein vertrautes Milchbubigesicht und dachte: Du bist übergeschnappt, mach du nur weiter so. Irresein fängt immer so an.

Ende Januar traf er Claudia noch einmal. Da er nun davon ausging, daß der Spuk bald vorüber sein würde, ging es ihm deutlich besser, und sie verbrachten einen netten Abend zusammen. Sie sahen sich endlich Jurassic Park im Kino an, und angesichts der zahlreichen, überzeugend lebensechten Saurier, die den Streifen bevölkerten, lief ihm eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken, wie er es schon seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Tobias hatte vom Eozän gesprochen. Wenn überhaupt irgendwohin, zu den Sauriern führte diese Höhle jedenfalls nicht. Das war beruhigend und enttäuschend zugleich. Wenn Tobias sich schon so einen himmelschreienden Blödsinn ausdachte, warum dann nicht gleich mit den richtigen Akteuren, den ungekrönten Majestäten der Vergangenheit? Wahrscheinlich hatte er befürchtet, das Ganze klänge dann von vornherein noch unglaubwürdiger.

Später beim Bier kamen sie auf die bevorstehenden Semesterferien zu sprechen. Während Claudia erklärte, sie sei noch unschlüssig, ob sie wegfahren solle, sie hätte sich eigentlich vorgenommen, endlich ihre Arbeit fertigzustellen, erzählte er von seiner Reise in die Slowakei.