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Gefühle von Demütigung und Scham stellten sich ein. Neue Bilder kamen, grinsende Klassenkameraden, gackernde Mädchen, Turnhallengeruch, ein riesiger Bauch, ein krebsrotes Gesicht.

Schmidt! Fett war gar kein Ausdruck. Der Mann war eine einzige kugelrunde feste Fleischmasse gewesen. Jede normale Bewegung schien ihm solche Anstrengungen zu verursachen, daß er kaum noch in der Lage war zu sprechen, geschweige denn, sich fortzubewegen, so hatte er herumgeschnauft. Aber dieser Schmidt war nicht nur ihr Erdkunde-, sondern vor allem ihr Sportlehrer gewesen. In dieser Funktion hatte er es zu einem der meistgehaßten Menschen in Michas Leben gebracht.

Kaum zu glauben! Er faßte sich an die Stirn. Daran hatte er schon eine Ewigkeit nicht mehr gedacht. »Die Seile«, flüsterte er vor sich hin und schüttelte ungläubig den Kopf. Typisch, daß Tobias Schmidt als Erdkunde- und nicht als Sportlehrer in Erinnerung hatte. Ihm hatte das alles nichts ausgemacht.

»Ja, und Sebastian, die alte Heulsuse«, sagte Tobias und kicherte.

Micha schreckte auf, überrascht, daß Tobias ihn verstanden hatte. Er sagte nichts, trank nur einen Schluck Kaffee und überließ sich wieder seinen Erinnerungen.

Sebastian Hollert war ein kleiner schwabbliger Fettsack, der zudem dadurch auffiel, daß er während der Schulpausen unvermittelt in hysterische Weinkrämpfe ausbrach und wild um sich schlagend alles und jeden wüst beschimpfte. Sebastian, Micha und Tobias bildeten das Schlappschwanztrio, dem es in den Sportstunden trotz verzweifelter Versuche nicht gelingen wollte, sich diese vermaledeite Hallendecke aus der Nähe anzusehen. Schmidt, der fette Sadist, stellte ihr Unvermögen an Seilen und Stangen immer wieder von neuem zur Schau. Tobias ließ diese Demütigungen damals mit erstaunlicher Gelassenheit über sich ergehen.

Das Gespräch schleppte sich zäh und mühsam dahin, und irgendwann gab Micha seinen Widerstand auf. Vielleicht spürte Tobias, daß Michas Bereitschaft, in Kindheitserlebnissen zu schwelgen, nicht sehr groß war, und er unterließ weitere Anspielungen auf ihre gemeinsame Vergangenheit.

Was dann folgte, war der unvermeidliche Austausch ihrer Kurzlebensläufe. Tobias war hoch erfreut zu hören, daß Micha Biologie studierte und sich mit Begeisterung der Entomologie, insbesondere der Käferkunde, widmete. Er selbst erzählte, daß er nach einer Lehre als Steinmetz auf der Abendschule das Abitur nachgemacht und dann in derselben Firma wie sein Vater gearbeitet hatte. Nach dem plötzlichen Tod seiner Eltern sei er vor einem guten halben Jahr nach Berlin gekommen, um Geologie zu studieren. Sie hatten sich beide den Naturwissenschaften zugewandt und stellten mit einem Lächeln übereinstimmend fest, daß sie damit gut auf Kurs geblieben waren. Ein Forscherdasein war ihnen schon damals als das Größte erschienen.

Nun war eine so angeregte Unterhaltung im Gange, daß Micha seine Kopfschmerzen bald vergessen hatte. In den kurzen Gesprächspausen, die nichts Peinliches mehr hatten, betrachteten sie sich gegenseitig, suchten nach vertrauten Zügen in ihren Gesichtern, und Michas mürrische Zurückhaltung war regem Interesse und einem eigentümlich vertrauten Gefühl gewichen.

»Ich habe jetzt endlich eine Wohnung in Kreuzberg gefunden. Du mußt mich unbedingt mal besuchen kommen«, sagte Tobias voller Begeisterung und die Erregung brachte Farbe in sein kantiges Gesicht. Micha mußte unwillkürlich grinsen, sosehr glich Tobias jetzt dem Bild, das in irgendeinem bisher verschlossenen Hinterstübchen seines Gehirns die Jahre überdauert hatte.

»Ich bin nur noch eine Woche in Berlin«, sagte Micha. »Dann fahre ich in den Urlaub.«

»Na, dann treffen wir uns eben, wenn du wieder zurück bist. Wo soll’s denn hingehen?« fragte Tobias.

»Ägäis, ‘n paar griechische Inseln abklappern.«

»Oh, toll, Kreta und so, ja? Na, ich muß erst mal renovieren, aber in drei, vier Wochen will ich auch wegfahren. Bin ein bißchen knapp bei Kasse, weißt du.«

»Und wo willst du hin?«

Wieder eroberte dieses charakteristische Grinsen das schmale Gesicht seines alten Schulfreundes. Ein Backpfeifengesicht, dachte Micha. In dieser Beziehung hatte Tobias sich wenig verändert. Er war nur noch kantiger geworden. Außerdem war da jetzt dieses seltsame Ding in seinem schiefen Schneidezahn.

Schon damals sprossen seine Zähne unbändig in alle Richtungen. Braune Haare hingen ihm ungekämmt und fettig um den Kopf. Seine Lippen waren meist trocken und aufgesprungen gewesen, und da er andauernd an den trockenen Hautstückchen herumknabberte, oft auch blutig und verschorft, nicht gerade ein hübsches Kind. Heute könnte er ohne weiteres als Bösewicht in einem James Bond-Streifen durchgehen.

»Ich wollte mich mal ein bißchen in der Slowakei umsehen«, antwortete Tobias nach kurzem Zögern, so als ob daran irgend etwas Geheimnisvolles wäre.

»Ungewöhnlich!«

»Ja, ich weiß. Aber preiswert und nicht so weit weg. Die Hohe Tatra soll sehr schön sein.«

»Klar, warum nicht?«

Ein Blick auf die Uhr zeigte Micha, daß es schon ziemlich spät geworden war. Er rief nach der Bedienung, um zu zahlen.

Er schrieb seine Adresse und Telefonnummer auf einen Bierdeckel und verabschiedete sich. »War nett dich zu treffen, wirklich. Ich bin wahrscheinlich Anfang September wieder zurück. Du kannst dich ja dann mal melden.«

Tobias stand auf, um ihm die Hand zu geben. Er hatte, was seine Körpergröße anging, erheblich an Boden gutgemacht.

Früher war er ein Hänfling gewesen. Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, reichte er Micha gerade bis an die Schultern, eine halbe Portion, ein Spargeltarzan mit dünnen Ärmchen und dürren knochigen Beinen, aus denen die Kniegelenke hervorstachen wie Geschwüre. Er wirkte als Kind zerbrechlich und kränklich. Sein hohlwangiges Gesicht hatte ausgesehen, als bekäme er nie genug zu essen. Vielleicht war dieser Eindruck gar nicht so falsch, denn Micha hatte mit eigenen Augen gesehen, wie dieses spacke Bürschchen im Schullandheim jeden Morgen sage und schreibe neun belegte Brote verdrückt hatte, ohne jemals den Eindruck zu vermitteln, jetzt sei es genug. »Schlechter Futterverwerter«, meinte Michas Mutter, als er ihr davon erzählte.

Er winkte Tobias aus ein paar Meter Entfernung noch einmal zu und marschierte dann in Richtung U-Bahn.

Hackebeil

»Dr. Axt, ich hab da was gefunden, das sollten Sie sich vielleicht mal anschauen.«

Montag morgen war Max zunächst hinunter in die Grube gegangen, hatte die Fundstelle erneut freigelegt und noch etwas Schiefer um die kleine Knochenreihe entfernt. Dabei hatte er noch eine weitere Reihe kleiner Knochen gefunden, fast parallel zu der ersten. Anschließend war er ohne besondere Eile nach oben gelaufen, um Hackebeil zu benachrichtigen.

»Tut mir leid, ich kann jetzt nicht, Max. Bin gerade beim Röntgen«, sagte Axt, ein eher kleiner, aber kräftig gebauter Mann mit kurzgeschorenen Haaren und einem schräg nach vorne ragenden Unterkiefer, der Max heute aus irgendeinem Grunde provozierte.

»In einer halben Stunde komme ich runter, okay? Machen Sie nur weiter.«

»Hm.«

»Was ist es denn?« rief Axt aus dem kleinen Nebenraum, in dem er gerade verschwunden war.

»Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen? Das müssen Sie schon selbst beurteilen«, antwortete Max so übellaunig, daß Axt überrascht um den Türpfosten blickte. »Na gut, ich beeile mich. In einer halben Stunde, ja?«

Max zuckte mit den Achseln und machte sich wieder auf den Weg. War ihm doch egal, ob Hackebeil jetzt, in einer halben Stunde oder überhaupt nicht kam.

Axt schaltete den Schirm an und betrachtete das, was in der unter dem Röntgengerät im Nachbarraum liegenden Schieferplatte verborgen war. Eine Schildkröte, schlecht erhalten und an mehreren Stellen auseinandergebrochen. Er hatte sich schon so etwas gedacht. Wenn man hier so viele Jahre gearbeitet hatte wie er, bekam man ein Gefühl dafür, ob ein Fund etwas hergab oder nicht. Der hier war es jedenfalls vorerst nicht wert, genauer untersucht zu werden. Vielleicht würden sie später für irgendwelche spezielleren Fragestellungen darauf zurückkommen, aber was das Skelett anging, bot dieser Fund nicht viel. Da hatten sie wesentlich Besseres auf Lager. Sie fanden so viele Fossilien, und die Präparation der Funde war so kompliziert und zeitaufwendig, daß sie es sich nicht leisten konnten, jedes Fossil freizulegen. Das hier kam jedenfalls ganz unten auf ihre Prioritätenliste und würde im Magazin enden, zusammen mit Hunderten von weiteren Stücken, die zu unbedeutend waren, um es bis zum Museumsschaustück zu bringen.