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Der Mensch hatte trotz jahrzehntelanger Versuche nicht eine einzige zustande gebracht. Ellen hatte sich in den Kopf gesetzt, diese Fragen endlich zu beantworten, und sie war überzeugt davon, nun auch über die dazu notwendigen Mittel zu verfügen.

Ein anderes, sehr aufschlußreiches Beispiel war der Hund, stellvertretend für die ganze Gruppe der menschlichen Hausund Nutztiere. Anders als bei der Katze, die sich noch heute anatomisch kaum von ihren wilden Vorfahren unterscheidet, hat sich der Hund als sehr variabel erwiesen. 5000 Jahre Domestikationsgeschichte haben aus den wölfischen Vorfahren eine unübersehbare Vielfalt an Hunderassen hervorgebracht. Aber trotz einer Unzahl unterschiedlichster Gestalten und Eigenschaften, einer Variationsbreite, die weit über jede natürlich vorkommende Variabilität hinausgeht, ist der Hund bis heute ein domestizierter Wolf geblieben. Prinzipiell sind alle Rassen, einschließlich des Stammvaters, untereinander kreuzbar. Und wie im Falle der Fruchtfliege verschwinden all die mühselig angezüchteten Merkmale wieder wie von Geisterhand, wenn man die Tiere sich selbst überläßt. Überall auf der Welt werden wildlebende Hunde über kurz oder lang zu derselben mittelgroßen, braun- oder schwarzgefärbten Promenadenmischung.

Tausende von Jahren und strengste Selektion in Form des züchterischen Eingriffs durch den Menschen haben nicht vermocht, auch nur eine einzige neue Tierart zu erschaffen. Der Übergang von einer Art zur anderen ließ sich offenbar nicht erzwingen. Die Natur stellte dabei unüberwindliche Hindernisse in den Weg. Worin bestand diese Grenze, über die man nicht hinwegkam? Ellen war dazu auserkoren, es endlich herauszufinden.

Ein erster wichtiger Schritt war getan. Sie hatte jetzt den Beweis, daß es möglich war, überhaupt etwas zu bewirken. Es wäre auch denkbar gewesen, daß die beiden Welten, zwischen denen sie seit Monaten hin- und herpendelte, parallel nebeneinander existierten. Aber das, was sie in der Zeitung gelesen hatte, zeigte eindeutig, daß Sonnenbergs Höhle nicht in etwas führte, das der irdischen Vergangenheit einfach nur ähnlich sah. Es war die Vergangenheit. Wahrscheinlich handelte es sich bei den verschwundenen Fledermäusen um Tiere, die ohne ihren Eingriff irgendwann in einen See gestürzt wären, um dort über lange Zeitspannen hinweg fossilisiert zu werden. Sie hatte sich vorgenommen, in der Universitätsbücherei nachzusehen, ob sie nicht noch mehr finden konnte. Außerdem wollte sie in Ruhe darüber nachdenken, welche weiteren Versuche sie nun in Angriff nehmen könnte. Sie mußte viel gezielter vorgehen. Wahllose Rundumschläge wie der künstlich ausgelöste Erdrutsch mußten die Ausnahme bleiben. Aber nachdem sie nun wußte, daß prinzipiell eine Einflußnahme möglich war, konnte sie doch nicht aufhören. Sie stand erst ganz am Anfang. Sie hatte es in der Hand, eines der größten Rätsel zu entschlüsseln

Sie schreckte auf, als eine Tür knallte und wenig später eine zweite. Sie schaute aus dem Fenster und sah, wie Sonnenbergs Besucher eilig die Auffahrt entlanglief und in seinen Wagen stieg.

Er wird hinterherfahren, dachte sie. Die Verlockung ist einfach zu groß. Man kann ihr nicht widerstehen.

Was hatte Axt geschrien?

Er ist tot?

Er wird sterben?

War Tobias gemeint oder dieser andere, mit dem er unterwegs war? Was war passiert? Und woher wollte er das wissen?

Hoffentlich war es Tobias! Es gab kaum jemanden, den sie so haßte wie ihn. Und das wollte bei ihr etwas heißen. Darauf konnte er sich direkt etwas einbilden. Wenn er es nach dieser entsetzlichen Nacht damals noch einmal gewagt hätte, sie anzurühren, sie wäre zu allem fähig gewesen, hätte ihm mit Vergnügen die Augen ausgekratzt, diesem Miststück mit seinem lächerlichen Diamanten im Zahn.

Sie hatte es nicht eilig. Sonnenberg wußte nichts von dem zweiten Zugang, und Axt würde den Weg durch die andere Höhle nehmen. Er mußte über die Meeresbucht und den Fluß anreisen und würde zehn bis zwölf Tage brauchen, um dahin zu gelangen, wo sie in weniger als zwölf Stunden sein würde. Sie hatte genügend Zeit, um sich alles genau zu überlegen.

Als führte jemand mit unsichtbarer Hand Regie, lag der zweite Zugang tief in demselben Berg, in dem sie sich ihren Unterschlupf eingerichtet hatte. Natürlich hatte sie nicht die geringste Ahnung davon gehabt. Erst viel später, als sie sich an einem regnerischen Tage einmal mit ihrer Taschenlampe tiefer in das ausgedehnte Höhlensystem vorgewagt hatte, verspürte sie plötzlich diese charakteristischen Kopfschmerzen und war einfach immer weiter in die Richtung gegangen, in der die Schmerzen stärker wurden und sich die Übelkeit in ihrem Magen steigerte. Sie konnte Schmerzen gut ertragen.

Plötzlich stand sie vor einem engen Felsspalt, durch den Sonnenstrahlen in die Höhle fielen und der so hinter dichtem Gestrüpp verborgen lag, daß man ihn von außen kaum wahrnehmen konnte. Natürlich hatte sie an den Pflanzen sofort erkannt, daß sie sich wieder in der Neuzeit befand und war eine Weile in der Gegend vor dem Felsspalt herumgelaufen. Mit einem Mal stand sie an einer schmalen geteerten Landstraße, auf der einige Autos mit deutschem Kennzeichen entlangfuhren. Wenn sie diesen Eingang nicht entdeckt hätte, wäre alles ganz anders gelaufen, dachte sie jetzt. Alles eine Kette von Zufällen. Was war das nun: Verhängnis oder Verheißung?

Sie packte ein paar Sachen zusammen und verließ ohne Eile das Haus. Sie würde es schon schaffen, alles einfach irgendwo verstecken und erst dann weitermachen, wenn sich die Aufregung gelegt hatte. Plötzlich fühlte sie einen Stich in der Herzgegend und dachte einen winzigen Moment lang daran, daß dies vielleicht ihre letzte Chance war, aufzuhören. Sie wies diesen Gedanken schnell von sich, setzte sich in ihren Wagen und fuhr in die Stadt, um sich mit Proviant zu versorgen.

Von dem scharfen Knall, der wenig später aus Sonnenbergs Zimmer drang, hörte sie nichts mehr.

Sintflut

Am nächsten Morgen wachte Micha auf, weil er Pencils feuchte Schnauze in seinem Gesicht spürte. Claudia war schon wach, stand am Rand des Höhlenvorplatzes, einer Art natürlicher Terrasse, und blickte mit dem Fernglas in die Ebene hinunter. Aus dem Inneren der Höhle hörte man leise Geräusche. Auch ihr Wohltäter war offensichtlich schon aktiv.

Er war wirklich ein Wohltäter für sie. Nachdem er Tobias verarztet hatte, bewirtete er sie mit einem Abendessen, dessen köstlicher Geschmack Micha jetzt noch auf der Zunge lag. Kartoffeln, Zwiebeln, Karotten, alles frische Lebensmittel, und dazu ein köstliches Braten, nach dessen Herkunft sie sich allerdings nicht zu erkundigen wagten. Er hatte ihnen versichert, daß sie das Fleisch bedenkenlos essen könnten. Danach hatten Claudia und Micha draußen vor der Höhle ihre Matten ausgebreitet und waren sofort fest eingeschlafen. Ihr Gastgeber zog sich in seine Höhle zurück, wo sich Tobias schon seit Stunden von den Strapazen der langen Wanderung erholte und seinen heftigen Rausch ausschlief, den er, wie sie nach dem Essen erfuhren, einem von ihrem Gastgeber selbst gebrannten, ziemlich herben Beerenschnaps zu verdanken hatte.

Er hieß übrigens Herzog, Ernst Herzog, und stammte aus Frankfurt. Viel mehr hatten sie nicht aus ihm herausbekommen. Er war früher Arzt gewesen, was seine medizinischen Kenntnisse und Fähigkeiten erklärte, aber warum er hier lebte und nicht wie seine Kollegen in Frankfurt praktizierte und ein Vermögen verdiente, darüber erfuhren sie nichts. Und woher kam das frische Gemüse, die Bücher, das Holz, aus dem das Höhlenportal gebaut war?

Er war nicht besonders redselig. Auf ihre Fragen kamen nur widerwillig oder gar keine Antworten. Sein Verhalten schwankte unvermittelt zwischen schroffer Abfuhr und freundschaftlicher Unterstützung. Möglicherweise hätte er sich ihnen nie gezeigt, wenn sie nicht in diese Notlage geraten wären. Daß sie aus Zufall auf ihn getroffen wären, war wohl so gut wie ausgeschlossen. Sie wären durch die Landschaft gelaufen, ohne auch nur im geringsten zu ahnen, daß dort ein Mensch lebte. Ihre erstaunlichen Funde hätten sie zwar warnen müssen - eine solche Begegnung hätte ja leicht auch einen ganz anderen Verlauf nehmen können -, aber sie hatten die Möglichkeit, tatsächlich jemandem zu begegnen, offensichtlich sehr schnell und erfolgreich wieder verdrängt und nie wirklich damit gerechnet.