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Micha stieg der köstliche Geruch von Bratkartoffeln in die Nase. Die Höhle hatte einen natürlichen Abzug, einen etwa zwanzig Zentimeter breiten Luftschacht, unter dem Herzog seine Feuerstelle eingerichtet hatte. Während Tobias drinnen noch schlief, verschlangen sie mit Heißhunger ihr Frühstück, und Herzog verriet ihnen auf ihre erstaunten Fragen hin, daß er einen Gemüsegarten angelegt habe, wo er die meisten seiner Nahrungsmittel heranzog und der, wie er mehrfach betonte, sehr viel Arbeit machte. Er versprach, sie bei Gelegenheit einmal dorthin zu führen. Als sie ihre Vorräte anboten, verzog er nur angewidert das Gesicht. Er habe sich nicht aus der Zivilisation zurückgezogen, um sich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit auf Büchsenfleisch und Tütensuppen zu stürzen, sagte er.

Bei Michas Verdauungszigarette bekam er allerdings große Augen und griff bereitwillig zu, als dieser ihm eine anbot. Auch von ihrem reichlich bemessenen Tee- und Kaffeevorrat machte er gerne Gebrauch. Die Zigarette rauchte er schweigend und voller Konzentration und Genuß, ein faszinierender Anblick für einen Raucher wie Micha, der täglich gedankenlos eine ganze Packung verbrauchte.

Kurz nach dem Frühstück trat Tobias aus der Höhle und kniff gegen die blendende Helligkeit die Augen zusammen. »Hm, hier riecht’s aber gut«, sagte er.

»He, Tobias«, rief Micha erfreut. »Wieder unter den Lebenden?«

Er sah schon viel besser aus. Statt eines Verbandes trug er nun einen großen graubraunen Klumpen um seinen Arm. Herzog hatte ihm als Gipsersatz einen dicken Stützverband aus feuchtem Lehm angefertigt. Das Material dazu hatte er gestern nachmittag mit dem Eimer von unten hochgeholt. Der so verpackte Unterarm ruhte in einer Schlinge, die Tobias um den Hals trug.

»Wie geht’s dir denn?« fragte Claudia. Pencil lief schwanzwedelnd auf ihn zu und beschnüffelte seine nackten Füße.

»Bis auf die Kopfschmerzen eigentlich ganz gut. Außerdem ...«, mit Hilfe seines gesunden Armes hob er den Lehmverband hoch, aus dem seine braungebrannte Hand ragte wie ein aufgepfropfter Fremdkörper, »‘n bißchen klobig, das Ding hier.« Er grinste, diesmal nüchtern.

»Geniale Konstruktion«, sagte Micha anerkennend.

»Es ist ein Prototyp«, brummte Herzog und kratzte seinen wilden Bart.

»Vielen Dank übrigens.« Tobias warf Herzog einen scheuen Blick zu. »Sind Sie eigentlich der Ernst Herzog? Ich meine, ich habe gehört, wie Sie ihren Namen genannt haben, und dann habe ich drinnen das Buch gesehen.« Er wies auf das schwarze Loch im Fels, Herzogs Höhle. »Ich kenne das Buch. Ich habe es auch zu Hause. Es ist gerade neu aufgelegt worden, mit vielen Abbildungen und so.«

»Tatsächlich?«

Alle Augenpaare richteten sich auf ihren Gastgeber, der ein schwaches Lächeln zeigte. Das schien überhaupt das einzige Zeichen von Heiterkeit zu sein, zu dem dieser Mann fähig war, jedenfalls bisher. Schließlich nickte er.

Tobias war beeindruckt. »Er ist ein bekannter DinosaurierExperte«, sagte er. Das schien für ihn die Situation von Grund auf zu verändern.

»Wirklich?« fragte Claudia, und Micha sagte: »Ach so!«, wobei ihm eigentlich selbst nicht ganz klar wahr, was diese Tatsache denn nun erklären sollte.

Herzog winkte bescheiden ab. »Das zählt jetzt nicht mehr.«

»Und ob das zählt.« Tobias schien es deutlich besser zu gehen. Es war wie ein Wunder.

»Jetzt erzählt mir lieber einmal, was euch auf die Wahnsinnsidee gebracht hat, hierherzufahren?« Sein Lächeln war verschwunden, und er sah sie mit seinem Raubvogelgesicht eindringlich an.

»Vermutlich das gleiche wie Sie«, antwortete Tobias.

Sie erzählten ihm von Sonnenberg und Tobias’ Plan eine zweite, gemeinsame Expedition durchzuführen.

»Sonnenberg«, murmelte Herzog. Er lächelte geheimnisvoll und schüttelte den Kopf. »Den gibt’s also immer noch.«

»Sie kennen ihn?« fragte Tobias verblüfft.

Er nickte. »Allerdings, ich kenne ihn gut. Trotzdem! Ihr hättet nie hierherkommen dürfen!«

Er hatte offenbar nicht vor, ihnen zu erklären, woher er Sonnenberg kannte, denn er stand auf, ging in die Höhle und kam kurze Zeit später mit einem ledernen Umhängebeutel und seinem Gewehr wieder heraus. Aus einer Felsennische neben dem Höhleneingang holte er einen selbstgefertigten Bogen und eine Handvoll Pfeile hervor. Das Gewehr benutze er nur in äußersten Notfällen, sagte er später. Sein Patronenvorrat sei sehr begrenzt. Aber es gäbe hier doch so einige Savannenbewohner, gegen die er mit seinem Bogen nicht viel ausrichten könne.

»Ich habe jetzt einiges zu erledigen. Am besten ihr bleibt erst einmal hier, bevor sich noch jemand etwas bricht. Die Gegend ist für Neulinge nicht ganz ungefährlich.« Ohne eine Antwort abzuwarten, marschierte er los und verschwand in dem schmalen Felsdurchlaß.

»Jawohl, Papa!« sagte Tobias leise, als Herzog verschwunden war.

Sie verbrachten den Rest des Tages in und vor der Höhle und beobachteten mit dem Fernglas das Leben in der Savanne, die sich unter ihnen ausbreitete. Irgendwie hatte das, was Tobias passiert war, einen Knacks bei Micha hinterlassen. Der Schock, die Verstörung saß tief, und er war außerstande, den außergewöhnlichen Rundblick, den Herzogs Unterschlupf bot, zu genießen. Claudia ging es ähnlich, das sah er an ihrem unsicheren Blick, an der Tatsache, wie oft sie Pencil streichelte und auf den Arm nahm, und an ihrem Desinteresse gegenüber dem Tierleben der Savanne. Und ausgerechnet Tobias, der ja eigentlich der Hauptleidtragende der ganzen Angelegenheit war, konnte sich vor Freude über die schöne Aussicht kaum beruhigen. Es war, als seien Claudia und Micha die Verletzten und er im Vollbesitz seiner Kräfte. Mit dem Glas, das er sich mit der gesunden Hand vor die Augen hielt, suchte er die ganze Gegend ab und jubelte jedesmal, wenn er eine neue Entdeckung gemacht hatte.

Später widmeten sie sich der Wohnhöhle. Das erstaunlichste in dieser archaischen Umgebung war die Bibliothek, die neben einigen Romanen und Lyrikbänden, dicken Wälzern über Paläontologie, Evolution und Fossilien des Tertiärs insbesondere auch das von Tobias erwähnte Werk ihres Gastgebers enthielt: Ernst Herzog, Dinosaurier in Mitteleuropa.

Tobias meinte, daß Herzogs Werk zu den wenigen maßgeblichen Dinosaurierbüchern in deutscher Sprache zähle, obwohl es schon vor über zwanzig Jahren geschrieben wurde. Der Rest der Bücher stelle sozusagen die Basisbibliothek jedes ernst zu nehmenden Paläontologen dar.

Auf einem primitiven selbstgezimmerten Tisch, der vor dem in den Fels geschlagenen Bücherregal stand, lag vor einem großen Tintenglas ein dickes, ziemlich abgegriffenes Buch. Es enthielt seitenlange handschriftliche Eintragungen und Zeichnungen, und als Micha das bemerkte, klappte er es hastig wieder zu, weil er sich plötzlich wie ein Eindringling vorkam. Auch die Fachbücher, einschließlich Herzogs eigenem, waren mit zahllosen Kommentaren und Randbemerkungen versehen worden. Es war ganz offensichtlich, daß Herzog hier Studien trieb, die er sorgfältig protokollierte. Viel Zeit würde ihm nicht dazu bleiben, denn schließlich mußte er zuallererst sein Überleben sichern, mit allem, was dazu gehörte.

Neben dem Tisch, den Büchern und dem mit aufgewühlten Decken bedeckten Felsenbett enthielt der in schummriges Licht getauchte Höhlenraum nur wenige primitive Einrichtungsgegenstände: ein schiefes Holzregal, in dem sich seine Küchenutensilien befanden, einige Holzschalen und zerbeulte Töpfe, eine alte durchsichtige Plastiktüte voller grober, mit Sand verunreinigter Salzklumpen, die vielleicht hier irgendwo aus der Gegend stammten, etliche Einweckgläser, in denen sich getrocknete Kräuter und andere zum Teil rätselhafte Dinge befanden, zwei große Eimer, die mit Wasser gefüllt waren, und im hinteren Ende der Höhle eine aus Latten zusammengezimmerte Tür, hinter der allerhand Werkzeug lagerte. Das war alles. Neben dem Bett stand ein kleiner Holzrahmen mit einer Schwarzweißfotografie. Sie zeigte ein junges Paar, sie in weißem Kleid mit Rüschen an Ärmeln und Kragen, eine zierliche Person mit schulterlangen lockigen Haaren, er ein schlanker, schüchtern dreinblickender Mann mit Schnurrbart im dunklen Anzug. Ein Hochzeitsfoto. Neben dem Buch, das er geschrieben hatte, der einzige erkennbare Anhaltspunkt, daß dieser Mann auch einmal ein anderes Leben geführt hatte, ohne wassergefüllte Blecheimer, ohne Felsenbetten, ohne klapprige Holzregale. Das Bild wanderte von Hand zu Hand.