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Zu letzterer Gruppe gehörte auch Tobias. Es war selten, daß er sich so lautstark in eine Diskussion einschaltete, aber diesmal kämpfte er für seine Position und führte als das alles entscheidende Argument die Tatsache an, daß die Südseeinsel und damit die Heimat dieser Witzfiguren laut Buchtext kurz nach Abreise der Expedition als Folge eines Vulkanausbruchs untergegangen sein sollte. Das Ganze sei also gar nicht mehr nachprüfbar.

Auf dem Heimweg schlenderte Micha durch die Alleen im Charlottenburger Westend. Ihm fiel ein Junge mit einer blauen Pudelmütze auf, der etwa zwanzig Meter vor ihm dahinbummelte und gelegentlich mit Schneebällen in imponierender Treffsicherheit nach Baumstämmen warf. Als Micha ihn einholte, erkannte er Tobias. Zuerst zuckte er vor Schreck zurück, er erinnere sich noch genau daran. Tobias war ihm noch nie auf dem Heimweg begegnet, und außerdem mochte er ihn nicht besonders, weil er auch zu den Schlappschwänzen gehörte.

»Gehst du immer hier lang?« fragte Micha feindselig. »Hab dich hier noch nie gesehen.«

»Manchmal!« Tobias grinste von einem Ohr zum anderen und zeigte seine groteske Zahnreihe.

Er steuerte eines der Autos an, knetete sich einen neuen Schneeball, und schon waren sie in eine heftige Schlacht verwickelt. Sie litt allerdings unter starkem Nachschubmangel, da der Dreck, der noch auf der Straße lag, kaum schneeballtauglich war.

Sie tobten eine Weile herum, bis die Schneebeschaffung zu mühselig wurde.

»War lustig heute die Biostunde, ne?« meinte Tobias plötzlich und warf die letzten Schneereste, die er noch in der Hand hielt, auf den Boden.

»Ja, ganz nett«, sagte Micha gelangweilt, aber in Wirklichkeit war er natürlich begeistert gewesen und noch immer ganz aufgeregt, wenn er an die Stunde zurückdachte.

»Zum Piepen, wie viele auf Kusch reingefallen sind. So ein Blödsinn, Rhinogradentia, Nasobeme, wo gibt’s denn so was.« Als er »Nasobeme« sagte, hielt er sich die Nase zu, so daß das Wort noch merkwürdiger klang. Micha mußte lachen. Aber, daß Tobias so sicher schien, ärgerte ihn irgendwie.

Sie schlenderten langsam weiter. Nach einer Weile hielt er es nicht mehr aus, blieb stehen und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Erzähl mir bloß nicht, daß du nicht auch irgendwann mal an die Geschichte geglaubt hast.«

»Nur ganz am Anfang! Ehrlich! Aber als ich dann die erste Zeichnung gesehen habe, war ich mir sicher.«

»Ich mir auch«, fügte Micha schnell hinzu, damit ja nicht der Eindruck entstand, er sei auf diesen Kinderkram hereingefallen.

»Aber toll ist so was schon«, sagte Tobias schwärmerisch.

»Was meinst du?«

»Na, so eine Expedition auf eine unbekannte Insel.«

»Ja, das ist toll«, antwortete Micha wie aus der Pistole geschossen und grinste. So eine Expedition war wirklich das Größte.

»Kennst du die Geschichte von King Kong? Der hat auch auf so einer unbekannten Insel gelebt.«

»Klar kenn ich King Kong.« Er hatte den alten Schwarzweißstreifen vor kurzem in der Kindervorstellung ihres Eckkinos gesehen.

Als Micha jetzt daran zurückdachte, fiel ihm auf, daß der Film ihn als Kind wegen seiner phantastischen Geschichte gepackt hatte. Die Abenteuer und Entdeckungen auf der unbekannten Insel hatten ihn ungemein fasziniert. Trotz aller tricktechnischen Perfektion interessierten ihn an dem modernen Remake des Films in erster Linie die seidig schimmernden Schenkel von Jessica Lange und ihr hinreißend dümmliches Lachen.

Plötzlich bekam Micha eine Gänsehaut. Dieses kurze Gespräch war der Beginn ihrer Freundschaft gewesen, und doch hatte es schon so vieles von dem, was ihre Beziehung später ausmachen sollte. Er sah Tobias vor sich, wie er mit weit ausholenden Bewegungen seiner dünnen Armchen die gigantischen Dimensionen eines Kampfes von Wal und Krake andeutete, über den er gerade gelesen hatte, die Lichtblitze der Tintenfische, das weit aufgerissene Maul des Pottwals. Dieser unscheinbare, schmächtige Junge verfügte über eine Begeisterungsfähigkeit, die ihn mitreißen konnte. Er war der unerschütterlichen Überzeugung, daß er die Abenteuer und Entdeckungen, die sie sich gemeinsam ausmalten, wirklich erleben würde. Aus ihm mußte einfach ein Entdecker und Wissenschaftler werden, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Es dauerte nicht lange, da durchstreiften sie zusammen die Eiswüsten der Pole und die Hölle des tropischen Regenwaldes, erforschten den Verlauf von Meereshöhlen, landeten auf fremden Planeten und entdeckten neue Lebensformen.

Bei alledem behielt Micha jedoch immer einen Rest zurückhaltender Skepsis bei, die Tobias völlig fremd war. Als hätte er Angst gehabt, sich zu sehr auf die Phantasien seines neuen Freundes einzulassen, wappnete er sich zeitweilig mit einer mürrischen Abwehrhaltung, indem er Tobias’ Vorschläge mit einem »So ‘n Quatsch«, »Du spinnst« oder »Das glaubste doch selbst nicht« kommentierte, um ihm im nächsten Moment wieder begeistert nachzurennen und eine hinter einer Nebelwand auftauchende Vulkaninsel zu erforschen.

Mit dem Anbrechen der wärmeren Jahreszeit begannen sie immer häufiger, Ausflüge in den Grunewald zu unternehmen oder die damals noch sehr viel abenteuerträchtigere Umgebung ihres Stadtbezirks zu erkunden. Das Entsetzen und die Freude hätten kaum größer sein können, als sie zum ersten Mal ein völlig verwildertes Trümmergrundstück durchstreiften, im Hintergrund als dramatische Kulisse eine große, zerfallene Ruine, und plötzlich auf einen Haufen weißgebleichter Knochen stießen. Die Schädel waren mit Sicherheit tierischen Ursprungs, wahrscheinlich von Pferden oder Rindern, aber die Knochen ... Immer wieder spekulierten sie, ob nicht auch Menschenknochen darunter waren, ob sie die Überreste eines abscheulichen Verbrechens, Opfer eines Bombenangriffs oder doch nur Pferdeknochen vor sich hatten.

Als ihnen eine Schulstunde die Archäologie näherbrachte, beschlossen sie sofort, bei ihren Expeditionen auch solche Aspekte mit zu berücksichtigen. Sie waren ja schließlich keine Fachidioten. Als sie kurze Zeit später einmal von der Lietzen-seebrücke in das flache Wasser schauten, entdeckten sie am Grund des Sees einige Steinbrocken, die eindeutig Teile einer Statue oder etwas Ähnlichem darstellten. Zweifellos handelte es sich um Bruchstücke des steinernen Brückengeländers, aber sie waren überzeugt, eine bedeutende Entdeckung gemacht zu haben, welche die Altertumswissenschaft revolutionieren würde. Tobias grübelte noch tagelang darüber nach, wie sie nur die großen Brocken aus dem See bergen könnten.

Es war wieder eine dieser Weihnachtsschulstunden, in der Kusch einen Film mit dem vielversprechenden Titel Reise in die Urwelt zeigte. Sie waren völlig aus dem Häuschen.

Eine Reise in die Urwelt!

Daß sie darauf noch nicht gekommen waren! Dagegen waren ja die Pferdeknochen auf ihrem Trümmergelände geradezu Pipifax.

Und diese Tiere! Natürlich ganz besonders die Saurier! Nie würde er den Kampf zwischen dem riesigen Tyrannosaurus mit seinem fruchtbaren Gebiß und dem armen Stegosaurus vergessen. Den in Knochenäxten endenden Schwanz hatte er dem übermächtig scheinenden Angreifer in die Eingeweide gerammt, ihn sogar in die Flucht geschlagen und war doch qualvoll an seinen furchtbaren Wunden zugrunde gegangen. Der Kampf der Giganten. Die Drachen in der Luft. Die riesigen Fleischberge in den Sümpfen. Aber auch die Säbelzahntiger, die Mammuts, die Riesenlibellen. All das sollte es auf diesem Planeten wirklich gegeben haben? Es war unglaublich, unfaßbar.

Während Micha nur hingerissen, fasziniert und begeistert war, reagierte Tobias zunächst wie geschockt, redete in der Schule kein Wort mit ihm und mied regelrecht seine Gegenwart. Später auf dem Heimweg verfiel er aber in eine Begeisterung, die alles, was Micha bisher bei ihm erlebt hatte, in den Schatten stellte.