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Eines ist klar. Diese untergegangene Welt des Eozäns ist keinen Deut weniger kompliziert, weniger entwickelt, weniger schön oder weniger häßlich und auf keinen Fall weniger überlebensfähig gewesen als die Erde unserer Neuheit. Die in ihr lebenden Organismen sind keineswegs weniger spezialisiert oder schlechter an ihre Umgebung angepaßt, die Ökosysteme von keiner geringeren Komplexität. Nein, diese vergangenen Welten waren nicht von vornherein zum Untergang verdammt, wie wir insgeheim wohl glauben, vielleicht zu unserer eigenen Beruhigung, um uns davon abzulenken, daß uns ein ähnliches Schicksal bevorsteht.

Nehmen wir zum Beispiel die Dickhäuter. Wir kennen die modernen Elefanten und neigen dazu, in ihren ausgestorbenen Verwandten noch unfertige und verbesserungsbedürftige Entwürfe zu sehen, die irgendwann in die Gestalt der modernen, der richtigen Elefanten münden mußten, so, als sei ihr heutiges Aussehen vom Moment ihrer Entstehung an eine Art Zielvorgabe oder Bestimmung gewesen. Wir haben den Araberhengst als Maßstab im Kopf und können nicht anders, als in den kleinen Urpferdchen, die hier herumtraben, nur groteske Vorformen zu sehen, die unmöglich so Bestand haben und die Zeiten überdauern konnten.

Diese Sicht der Dinge ist völlig und von Grund auf falsch und nur ein weiterer Ausdruck jenes grenzenlosen Anthropozentrismus, der diese Welt so nahe an den Abgrund manövriert hat. Genauso wie wir über Affen lachen, weil wir in ihnen unvollkommene Menschen sehen, schmunzeln wir über die Wesen der Urzeit. Nur die Dinosaurier, und auch unter diesen nur die wirklichen Riesen, jagen uns wegen ihrer Größe einen Schauer über den Rücken, vielleicht weil uns ihre Dimensionen einen Hauch von Zweifel an unserer vermeintlichen Allmacht aufdrängen. Aber über den Rest lächeln wir nachsichtig wie über unbeholfene Darstellungen aus Kinderhand und vergessen dabei, daß wir in der Rückschau eines möglichen Nachfolgers selbst einmal als primitive Übergangsstadien dastehen werden.

Angesichts der Tiere, die wir hier und jetzt in ihrer natürlichen Umgebung beobachten können, ist es absolut unmöglich vorherzusagen, welche davon überleben werden und welche nicht. Niemand könnte sagen, du da, Uintatherium, mit den komischen, nutzlosen, offensichtlich überflüssigen und geradezu hinderlichen Höckern auf dem Kopf, du wirst aussterben, weil du eine glatte Fehlkonstruktion bist, und du da mit dem verlängerten Hals, die du aussiehst wie eine beginnende Giraffe, du wirst überleben und dich zu einer ziemlich grotesken Gestalt weiterentwickeln. Du wirst noch an hochhängenden dornigen Akazienblättern knabbern können, dafür aber nur unter umständlichen und ziemlich lächerlich wirkenden Verrenkungen in der Lage sein zu trinken. Alles hat eben seinen Preis.

Nur weil wir wissen, was überdauert hat, glaubten wir hier anfangs überlebensfähige von zum Scheitern verurteilten Gestalten unterscheiden zu können.

Im Laufe der Erdgeschichte kam es immer wieder zu Artensterben gigantischen Ausmaßes, die innerhalb relativ kurzer Zeit einen Großteil der damals auf der Erde lebenden Tierarten gnadenlos ausradierten. In einem von Herzogs Büchern habe ich gerade gelesen, daß am Ende des Erdaltertums, zwischen Perm und Trias, schätzungsweise 95 % aller Meereslebewesen ausstarben. Das war der bisher dramatischste Einschnitt in der Geschichte des Lebens. Es waren diese Phasen des massiven Artensterbens, nach denen die letztlich willkürlichen Grenzen der Erdzeitalter festgesetzt wurden. Natürlich kommt es auch in den verhältnismäßig ruhigen Zwischenphasen zum Ableben einzelner Arten. Sie können sich in einer länger währenden Auseinandersetzung mit Konkurrenten und Feinden nicht mehr durchsetzen und sterben aus. Die Evolutionsforscher nennen das Hintergrundaussterben, die vielen kleinen Tragödien, die jederzeit ablaufen und kaum Spuren hinterlassen. Aber die große Masse der Arten verschwindet offenbar durch Katastrophen globalen Ausmaßes, seien dies nun Phasen hoher vulkanischer Aktivität, das Einschlagen ganzer Meteoritenschwärme oder Zeiten starker globaler Abkühlung. Da sind sich die Fachleute noch nicht einig.

Von wegen »survival of the fittest«! Den Leuten im 19. Jahrhundert paßte diese Idee Darwins natürlich gut ins Konzept. Sie waren ja gerade im Begriff, die menschliche Gesellschaft des beginnenden Industriezeitalters nach denselben erbarmungslosen Gesetzen zu strukturieren. Wenn die Natur so funktionierte, warum sollten es dann die Menschen anders machen?

Aber nicht die tüchtigsten, die am besten angepaßten oder die Organismen mit den höchsten Nachkommenzahlen haben diese gigantischen Katastrophen überlebt, sondern die glücklichsten, möglicherweise gerade die Generalisten, die es überall irgendwie schaffen. Die Spezialisten, also gerade die besonders hoch entwickelten, an bestimmte Nischen am besten angepaßten Arten, sind am schlechtesten mit solchen radikalen Veränderungen der Umwelt fertiggeworden. Kein Lebewesen kann sich an globale Umwälzungen anpassen, die nur einmal alle 26 Millionen Jahre eintreffen, wie das eine Theorie postuliert.

Der Zufall führt eine gnadenlose Regie, von zielgerichteter Höherentwicklung keine Spur. Diese kurzen Zeiten weltumfassender, dramatischer Veränderungen erfordern doch gänzlich andere Eigenschaften und Anpassungen als die relativ störungsfreien Zeiten vor und nach einer solchen globalen Katastrophe. Kein Organismus kann auf so etwas vorbereitet sein. Und daß am Ende die Säuger und damit auch wir Menschen übrigblieben, war nichts weiter als ein glücklicher Zufall.

Wenn unvermittelt ein ganzes Hochhaus brennt, wer wird wohl überleben? Die Besten, die Intelligentesten, die Schönsten oder die Gründlichsten? oder die, die zufällig in den unteren Stockwerken wohnen und von dort schnell ins Freie fliehen, die, die zufällig gerade Brötchen oder Zigaretten holen, oder die, die just in diesem Moment im Keller nach alten Erinnerungsstücken suchen?

Irgendwie schockiert mich diese Einsicht, aber je mehr ich sehe und darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, daß es nicht »survival of the fittest«, sondern auf lange Sicht wirklich »survival of the luckiest« heißen muß.

Die Vorstellung, alles, was vor der Neuzeit existierte, hätte in unserer Zeit seine endgültige Gestalt angenommen, suggeriert, dieser seit Anbeginn des Lebens währende Prozeß des Kommens und Gehens und der stetigen Veränderung sei nun mit unserer Zeit zum Abschluß gekommen, das Ziel erreicht, der Gipfel erklommen.

Was für ein himmelschreiender arroganter Blödsinn! Nichts, aber auch gar nichts spricht dafür. Solange es Leben gibt, wird es auch Evolution und damit Veränderung geben. Das Signal für das nächste, in seiner Geschwindigkeit wahrscheinlich beispiellose Artensterben hat allerdings der Mensch gegeben. Diese wirkliche Spitzenstellung kann uns keiner mehr streitig machen. Danach wird wieder etwas Neues beginnen. Ob mit oder ohne uns.

Ich stelle mir die Geschichte unseres Planeten im Zeitraffer vor, vielleicht ein Jahr pro Sekunde, ein paar Jahrtausende in der Stunde. Oh, ich habe das gerade überschlagen, ein solcher Film wäre immer noch ziemlich lang. Er würde ungefähr hundert Jahre dauern. Ich lasse also besser gleich hundert Jahre in einer einzigen Sekunde ablaufen.

Ich sehe, wie der Atomofen im Inneren der Erde ihre dünne, gerade erst erkaltete Kruste wieder zerreißen läßt, wie die einzelnen Platten, angetrieben durch die aufsteigende Hitze, scheinbar ziellos umhertrudeln, mal hier, mal dort gegeneinanderstoßen, dabei als Knautschzonen riesige Gebirge auftürmen und dann wieder auseinandertreiben. Je nach Lage der Kontinente ändern die riesigen Strömungen der Ozeane ihren Verlauf, schaffen neue klimatische Bedingungen. Das Land hebt und senkt sich wie die langsam atmende Brust eines Riesen, und das Wasser folgt den Bewegungen, überflutet große Festlandbereiche, schafft riesige Binnenmeere, die bald verdunsten und kilometerdicke Salzschichten zurücklassen, in die die Menschen später ihren Atommüll einlagern werden. Die gerade erst aufgefalteten Gebirge verfallen schon vom Moment ihrer Entstehung an. Sie zerspringen, zerbröseln und zerfallen zu immer kleineren Bruchstücken, schließlich zu Sand und Ton und sinken als über Tausende von Kilometern transportierte Sedimente auf den Boden von Meeresbuchten und Seen. Druck und Zeit verbacken sie dort erneut zu Gestein, das beim nächsten Zusammenprall der Kontinente zu neuen Berggestalten verformt und emporgehoben wird. Ein gigantischer Kreislauf.