Und das Leben? Welche Rolle spielt aus dieser Perspektive das Leben? Es ist kaum zu erkennen, nur eine rätselhafte Unscharfe dicht über dem Boden. Als Spielball der kosmischen und irdischen Kräfte versucht es, sich immer wieder aufs neue auf die veränderten Bedingungen einzustellen. Ein irgendwie rührender, aber auch aussichtsloser Wettlauf. Wie eine Art Schimmelpilz überzieht es die Festlandmassen mit einer dünnen und verletzbaren Schicht, in die jede Veränderung tiefe Wunden reißt. Nein, Herrscher dieses Planeten waren weder die Saurier im Erdmittelalter noch Mensch oder Ameise. Das Sagen hat auf lange Sicht eindeutig das Gestein, diese gigantischen, sich im Planeteninneren träge drehenden Walzen aus glühendem Magma, die die Kontinente vor sich herspülen wie Meereswellen herrenloses Treibgut. Dem Leben bleibt nichts anderes übrig, als die Zwischenzeiten zu nutzen, so gut es geht.
Das ist doch irgendwie deprimierend!
Und da ist auch noch der Mond, ohne den es, wie ich mich kürzlich durch Tobias belehren lassen mußte, auf der eh schon arggebeutelten Erde erst recht drunter und drüber ginge. Nach den neuesten Erkenntnissen der Mondforscher ist unser Trabant das Ergebnis eines Zusammenstoßes. Die Erde kollidierte mit einem anderen, etwa marsgroßen Himmelskörper unseres Sonnensystems. Durch die ungeheure Energie wurden beide Planetenmassen nahezu verflüssigt und das Gesteinsmaterial des Zukünftigen Mondes ins Weltall geschleudert. Im Grunde eine neuartige Form der alten Abspaltungstheorie, die ursprünglich von George Darwin stammt, Charles ’ zweitem Sohn. Die Erde drehte sich damals viel langsamer als heute. Erst durch den Zusammenprall wurde ihre Umdrehungsgeschwindigkeit drastisch erhöht. Er wirkte wie eine klatschende kosmische Ohrfeige, die den damals noch jungen Planeten mit ungeheurer Wucht um sich selber wirbelte. Andernfalls hätten wir auf der Erde Verhältnisse wie auf der Venus: Ein Tag dauerte dann fast ein Erdenjahr, mit allen Konsequenzen, die das für eine mögliche Entstehung des Lebens gehabt hätte. Einmal im All stabilisierte die Mondmasse die ziemlich labile Achse der Erde. Wie Betrunkene trudeln dagegen Mars und Venus um die Sonne, weil ihnen ein vergleichbarer Aufpasser fehlt. Beim Mars schwankt die Achse um bis zu 60 Grad. Die Achse der Venus war so instabil, daß irgendwann der ganze Planet kippte und heute praktisch auf dem Kopf stehend um die Sonne rast. Nur die Erde wird durch die Kraft des Mondes halbwegs in Position gehalten, was eine einigermaßen gleichmäßige Verteilung der einfallenden Sonnenenergie garantiert. Die verbleibenden Schwankungen sind dramatisch genug. Nach Ansicht vieler Experten reichen sie aus, um der Erde regelmäßige Eiszeiten zu bescheren. Nur eine Winzigkeit mehr davon, und Leben, jedenfalls in seiner höher entwickelten Spielart, wäre unmöglich gewesen.
Es wird einem ganz schwindlig angesichts all dieser haarsträubenden Zufälle und Unwägbarkeiten. Und das Ganze läßt sich ja noch viel weitertreiben, wenn man etwa an die physikalischen Konstanten denkt, ohne deren Existenz in exakt der Größe, die sie haben, kein Stein, sprich, kein Atom auf dem anderen bliebe.
Alles hängt an einem seidenen Faden. Und wir baumeln irgendwo ganz unten, immer noch hoch genug, um uns beim Fallen alle Knochen zu brechen.
So, nachdem ich meine Rolle im Universum nun erneut durchdacht und als absolut null und nichtig erkannt habe, ist Zeit für etwas Erbauliches. Schließlich müssen wir irgendwie versuchen, aus unserer Bedeutungslosigkeit das Beste zu machen. Ich könnte zum Beispiel mit meiner süßen Claudia mal wieder runter zum Fluß gehen. Sie sitzt da drüben und blinzelt mir zu. Wenn ich früher nur mal genauer hingeschaut hätte. Vielleicht wäre mir Trottel dann eher aufgefallen, was für wunderschöne smaragdgrüne Augen sie hat. Und wie sie jetzt guckt!
Der Heilungsprozeß von Tobias’ Arm machte gute Fortschritte. Die Schwellung war zurückgegangen und, was noch wichtiger war, die gefährliche Entzündung deutlich abgeklungen. Die Antibiotika hatten ganze Arbeit geleistet. Wahrscheinlich waren die hiesigen Bakterien auf so etwas nicht vorbereitet. Wie sollten sie auch. Irgendwie unfair, mit der geballten medizinischen Macht des zwanzigsten nachchristlichen Jahrhunderts gegen diese unschuldigen Urzeitmikroben vorzugehen, die einfach nur das Pech gehabt hatten, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen zu sein.
Jetzt steckte der Arm in einem frischen, von der Feuchtigkeit noch dunkelgefärbten Lehmverband. Trotzdem war es wahrscheinlich noch viel zu früh für Tobias, sich auf ein solches Abenteuer einzulassen, wie er es da plötzlich vorschlug. Er wollte unbedingt möglichst bald in diesen Dschungel fahren, dessen erste Ausläufer laut Herzog einige Tagesreisen flußaufwärts liegen sollten.
Aber Tobias gab keine Ruhe, und Micha hatte das Gefühl, daß Herzog ihn mochte. Warum hätte er ihnen sonst sein Floß angeboten, das irgendwo in der Nähe des Waldes am Flußufer liegen sollte? Vielleicht erkannte er in ihm eine jüngere Ausgabe seiner selbst, denselben Fanatismus, dieselbe Faszination, die von diesen urzeitlichen Kreaturen ausging und der er sich wie Tobias nicht zu entziehen vermochte. Wer in relativ jungen Jahren eine derart radikale Entscheidung traf wie Herzog, der mußte schon ein absoluter Fanatiker sein. So jemanden, der neben seinem Beruf als Arzt noch intensiven paläontologischen Studien nachging und mit kaum dreißig Jahren als Laie eines der Standardwerke zu diesem Thema verfaßte, nannte man heutzutage einen Workaholic, und das waren nicht gerade die liebenswertesten Zeitgenossen. Vielleicht war Herzog ein ganz und gar unausstehlicher Mensch gewesen, der nur für sein Hobby und seine Arbeit gelebt hatte.
Als sie dann einige Tage später tatsächlich in den Dschungel fuhren, gewann Micha recht bald den Eindruck, daß es ein Fehler gewesen war, Tobias’ Drängen so rasch nachgegeben zu haben. Es war nicht sein erster. Was als ein einziger breiter Flußlauf aus dem Dschungel herausführte und in verschlungenen Windungen durch die Savanne floß, schien sich im Wald in eine Unzahl kleiner Wasserläufe zu verzweigen. Überall mündeten große und kleine Bäche, und immer wieder mußten sie sich entscheiden, welcher Wasserstraße sie folgen wollten, weil sie auf neue Gabelungen des Flußes trafen. Das Ganze schien eine riesige, netzartig verbundene Flußlandschaft zu sein. Die Strömung war nur schwach und das Wasser nicht sehr tief, so daß wenigstens das ungewohnte Staken nicht allzu mühselig war. Trotzdem schwitzten sie wie in einer Sauna. Das Klima war mörderisch. Alles war feucht, und die Kleidung klebte ihnen am Körper.
Als sie tiefer in den Wald eindrangen, fielen plötzlich eine ungeahnte Vielzahl von Stimmen über ihre entwöhnten Ohren her, so, als ob jemand einen versteckten Lautstärkeregler betätigt hätte. Alles, was es auch war, schien durcheinanderzuschreien, zu zwitschern und zu rufen. Außer einem überwältigenden, hoch aufragenden und allgegenwärtigen Grün konnte Micha zunächst überhaupt keine Einzelheiten erkennen. Die Rufe, die man hörte, schienen aus dem Nichts zu kommen.