Выбрать главу

Erst langsam, Detail für Detail, setzte sein Gehirn zusammen, was Augen, Ohren und Nase in einer wahren Flutwelle von Sinneseindrücken anlieferten, so, als ob sein Verstand nach den vielen Tagen in der weitläufigen Savannenlandschaft eine beträchtliche Trägheit zu überwinden hätte und anfangs vor der ungewohnten Enge der Dschungelkanäle und der auf ihn einstürmenden Masse von Empfindungen kapitulierte. Rings herum grünte und blühte eine derartige Vegetationsvielfalt, daß man meinen konnte, keine einzige Pflanze sei zweimal vorhanden. Claudia murmelte fortwährend irgendwelche lateinischen Pflanzennamen vor sich hin. Dieser Artenreichtum auf der einen und die geringe Dichte, in der viele Arten vorkamen, auf der anderen Seite waren ja auch noch in ferner Zukunft typisch für tropische Urwälder. Aber dieser hier, durch den sie gerade fuhren, hatte, so tropisch er auch anmuten mochte, einmal mitten im Herzen von Europa gelegen.

Kraniche mit ihren langen Stelzbeinen und prachtvollem Gefieder flogen unter ohrenbetäubendem Gekreische auf, wenn sie sich ihnen näherten. Am Ufer unter dem Blätterdach oder im Gewirr dicker Pfahlwurzeln dösten Krokodile und Schildkröten, die kaum Notiz von ihnen nahmen. Auf einem Ast, der weit über das Wasser ragte, sonnte sich eine große Schlange. Aber hin und wieder sahen sie im Geäst der Bäume auch Wesen, die ihnen völlig unbekannt waren, groteske Mischungen aus Faultieren, Ameisenbären, Schuppentieren und Halbaffen. Micha hätte sich nicht getraut, sie auch nur in die Nähe einer ihm bekannten Tiergruppe zu stellen. Was das Geräuschwirrwarr verursachte, das sie umgab, wagte er sich nicht einmal vorzustellen. Die Stimmen waren jedenfalls sehr viel zahlreicher als die möglichen Verursacher, die sie zu sehen bekamen.

Plötzlich schrie Claudia: »Guckt mal da!« und zeigte auf einen großen, dunklen, länglichen Schatten, der wie eine Eskorte neben ihnen durch das bräunliche Wasser glitt. Im nächsten Moment war er verschwunden. »Was war das denn?« Hastig zog sie ihre Stange aus dem Wasser.

»Keine Ahnung.« Auch Micha hatte seine Stange herausgezogen und starrte angestrengt in das schwärzliche Gewässer. Tobias stand hinten im Heck des Floßes, hatte sich die Ruderpinne unter den geschienten Arm geklemmt und blickte sich ebenfalls um.

»Was es auch war, es war jedenfalls ziemlich groß«, sagte Claudia und schluckte.

Sie mußten sich wohl damit abfinden, hier so gut wie nichts zu kennen. Ihre einzigen Bezugspunkte waren die Lebewesen, die sie aus ihrer Zeit kannten, wie etwa die Krokodile und Schildkröten. Das meiste, was hier lebte, war jedoch seit vielen Millionen Jahren ausgestorben, jedenfalls hatte kaum etwas, auch nicht das scheinbar Vertraute, unverändert die Zeiten überdauert. Alles hatte sich weiterentwickelt, verändert oder war für immer von der Bildfläche verschwunden. Meinten sie ein Tier oder eine Pflanze erkannt zu haben, zeigte eine nähere Betrachtung meist allerlei Details, die irritierten.

In einem Punkt allerdings bestand nicht der geringste Zweifel. Das, was da in dichten Wolken zwischen den Bäumen schwebte und nun mit widerlichem Gesumm um ihre Köpfe tanzte, waren Stechmücken, die ihren neuzeitlichen Verwandten in jedem Punkte mindestens ebenbürtig waren. Als hätten sie die letzten Millionen Jahre nur auf jemanden wie sie gewartet, stürzten sie sich auf jeden freien Flecken Menschenhaut und bohrten mit ihren Säugrüsseln hastig nach Blut. Sie waren eindeutig in der Überzahl und kannten kein Pardon. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie an allen für die Parasiten erreichbaren Körperteilen von Stichen übersät waren. Es gab kein Entkommen. Erst als sie sich bis zu den Haarwurzeln mit dicken Schichten von Insektenschutzmittel einrieben, hatte der Spuk ein Ende. Das mochten die Biester nicht. Nach dem Siegeszug der Antibiotika ein erneuter Triumph moderner Wissenschaft über diese primitiven urtümlichen Lebensformen. Es tat gut, sich wenigstens in solchen Teilbereichen überlegen zu fühlen.

Micha mußte immer häufiger an die kommende Nacht denken. »Wo wollen wir hier nur unser Lager aufschlagen?« fragte er mit einem skeptischen Blick auf das undurchdringliche Dickicht, das sie umgab. »In diesen Dschungel kriegen mich jedenfalls keine zehn Pferde.«

»Auf dem Floß«, antwortete Tobias. »Wir müssen hier auf dem Floß schlafen, anders geht es wohl nicht.«

Schlafen! Als ob das so einfach wäre. Micha konnte sich bisher nicht vorstellen, wie er inmitten dieses Zoos, dieser Wolken von blutgierigen Mücken schlafen sollte. Kein Auge würde er zutun. Skeptisch betrachtete er Herzogs Floß, das sich als ein grob aus knorrigen und schiefen Stämmen zusammengezimmertes Gefährt entpuppt hatte und jede Art von Bequemlichkeit vermissen ließ. Sie mußten ständig aufpassen, daß sie auf den glatten Baumstämmen nicht ausrutschten oder in die Zwischenräume traten und stolperten. Zwischen den Stämmen gähnten immer wieder größere Löcher, durch die das Wasser nach oben schwappte.

Langsam stakten sie immer tiefer in den Wald. Während sie außerhalb des Dschungels kilometerweit sehen konnten, waren es jetzt mitunter nur wenige Meter. Überall nahmen ihnen Pflanzen die Sicht, und der Fluß mäanderte in irrsinnigen Schleifen und Windungen zwischen den Bäumen hindurch. Immer wieder verengte sich der Flußlauf bis auf wenige Meter, so daß sich die Baumkronen beider Ufer über ihnen schlossen, wie die Hälften einer haushohen Zugbrücke. Es wurde dunkel und stickig, und durch einen lebenden Baldachin glitten sie dann dahin, duckten sich unter tiefhängende schenkeldicke Äste oder zwängten sich durch einen dichten Lianenvorhang. Mitunter half nur die Axt, wenn sie in dem Irrgarten steckenzubleiben drohten.

Irgendwann streikte Claudia: »Ich kann nicht mehr«, sagte sie nur und zog demonstrativ ihre Holzstange aus dem Wasser. Sie hatte einen leidenden Ausdruck im Gesicht. Es war durch die vielen Mückenstiche unförmig angeschwollen.

Das extreme Klima machte ihnen schwer zu schaffen. Micha verspürte keine große Lust, alleine weiterzustaken, und auch Tobias wirkte müde und ausgebrannt und wollte bald rasten. Also suchten sie einen geeigneten Lagerplatz oder zumindest irgend etwas, wo sie gefahrlos und ohne allzu engen Kontakt zum umgebenden Dschungel festmachen konnten. Sie fuhren in einen kleinen Seitenarm dessen, was sie für den eigentlichen Fluß hielten, und fanden schließlich eine große Wurzel, die wie das Knie eines Riesen über die Wasseroberfläche ragte. Außer einer pfannengroßen Schildkröte, die ihren Kopf aus dem Wasser streckte und sie neugierig beobachtete, schien niemand sonst diesen Platz zu beanspruchen, und mit einem dicken Knoten banden sie das Floß an der Wurzel fest.

Ermutigt durch einige erfolgreiche Versuche in der Nähe von Herzogs Höhle, hatte Claudia darauf bestanden, die Angel mitzunehmen, und kaum war das Floß befestigt, holte sie Schwung und ließ den Haken mit dem Blinker zehn Meter weiter ins Wasser plumpsen. Pencil wurde unruhig und stolperte auf den rutschigen Holzstämmen aufgeregt zwischen ihren Füßen herum.

»Er muß mal«, sagte Claudia, während sie unermüdlich an der Kurbel der Angelrute drehte.

»Willst du ihn denn hier an Land lassen?« fragte Micha.

Tobias blickte ihn verständnislos an. »Was denn sonst? Oder ist dir lieber, er pißt aufs Floß?«

»Laß ihn raus!« sagte Claudia, obwohl ihr Gesichtsausdruck zeigte, daß ihr nicht ganz wohl war bei dem Gedanken. »Ich habe auch keine Lust, heute nacht in Hundepisse zu schlafen.«

»Wie du meinst.« Tobias griff nach einem Ast, nicht ohne sich vorher zu vergewissern, daß darauf nichts Lebendiges saß, und zog das Floß so nah ans Ufer, wie er konnte. Das eigentliche Ufer war gar nicht so leicht auszumachen. Es bestand aus einem ineinander verknotetem Gewirr von Wurzeln und anderen Pflanzenteilen.

Pencil schien das nicht zu stören. Kaum hatte ihn Tobias an »Land« gesetzt, verschwand er raschelnd im Blätterwald. Claudia machte ein besorgtes Gesicht, aber ihre Aufmerksamkeit wurde plötzlich voll in Anspruch genommen, weil etwas energisch an der Angel zerrte.