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»Ich hab was!« rief sie und kurbelte wie wild. Die Angel bog sich beängstigend. »Boah, das muß ein riesiger Bursche sein.«

Es dauerte mindestens fünfzehn Minuten, bis sie Claudias Beute mit vereinten Kräften überwältigt hatten und das zappelnde Etwas knapp über der Wasserlinie neben dem Floß baumelte.

»Was ist das denn?« fragte sie mit einer Mischung aus Neugierde und Ekel. Das Ding war einen guten halben Meter lang und zweifellos eine Art Fisch, aber ...

»Ich glaube nicht, daß ich das esse«, sagte Micha, aber das Wesen faszinierte ihn. Im Querschnitt war Claudias Beute annähernd dreieckig. Sie hatte einen im Verhältnis zur Körpergröße riesigen Kopf und trug an dessen Unterseite zahllose fädige Anhänge.

»Sieht aus, wie ne Art Wels«, spekulierte Tobias. Er griff nach der Angelleine und zog das Vieh auf das Floß.

»Ihhh!« schrie Claudia, als der Fisch direkt vor ihr auf dem Boden herumsprang. Tobias griff nach der Machete, die Herzog ihnen mitgegeben hatte, und schlug mit der flachen Klinge zwei-, dreimal zu. Dann war Ruhe. Ratlos saßen sie um den blutbeschmierten Fisch herum, der immer noch das Maul bewegte, als schnappe er nach Luft.

»Ich finde, wir probieren’s einfach. Giftig wird er schon nicht sein«, sagte Tobias und griff nach seinem Messer.

Micha wandte sich angeekelt ab.

Eine halbe Stunde später hatte Tobias das Tier ausgenommen, und über dem Petroleumkocher, der an einer halbwegs ebenen Stelle des Floßbodens stand, brutzelten die in handliche Portionen zerteilten Filetstücke von Claudias Jagdbeute. Den Rest hatte er über Bord geworfen, und ein paar Minuten lang hatten sie staunend verfolgt, wie das Wasser um den auf der Oberfläche schwimmenden Kadaver plötzlich zu brodeln begann und buchstäblich nichts mehr davon übrigblieb.

»Auf mein morgendliches Bad werde ich hier wohl verzichten«, sagte Tobias nur und widmete sich wieder seinen Fischfilets. Jetzt war wohl klar, was Herzog damit gemeint hatte, als er sie ermahnte, ihre Knochen nur ja aus dem Wasser zu halten. Vielleicht trieben sich hier irgendwelche tertiären Piranhas herum.

Micha mußte an den Candiru denken, einen kleinen Fisch des neuzeitlichen Amazonas, der als Parasit in den Verdauungskanälen größerer Fische lebt und eine leidenschaftliche Vorliebe für frischen warmen Urin entwickelt hat. Macht ein Mann den Fehler, in der Nähe eines Candiru ohne Schutz ins Wasser zu pinkeln, fühlt sich der kleine Kerl geradezu magisch angezogen, der Quelle des warmen Stromes auf den Grund zu gehen. Er schlüpft in die Harnröhre, und weil es da so unvergleichlich gemütlich ist und er sich so über alle Maßen wohl fühlt, spreizt er voller Wonne die stachligen Kiemendeckel ab, um sich an diesem himmlischen Platz für eine Weile häuslich einzurichten. Angeblich soll in einem solchen Fall nur noch ein scharfes Skalpell helfen.

Micha schüttelte sich. Dann fiel ihm auf, daß der Dackel immer noch nicht zurückgekehrt war. »Wo bleibt eigentlich Pencil?«

Sie hatten ihn in der ganzen Aufregung um den Fisch völlig vergessen. Claudias Augen weiteten sich, sie bekam vor Schreck einen roten Kopf und stand abrupt auf.

»Pencil!« schrie sie in das undurchdringliche Grün des Dschungels. »Pencil!« Aber außer einigen, fast menschlich klingenden Rufen irgendeines Tieres tat sich gar nichts.

»O Gott, was ist mit ihm?«

»Du willst doch wohl nicht etwa hinter ihm her, oder?« fragte Micha, aber sie schüttelte zu seiner Erleichterung energisch den Kopf.

»Essen ist fertig!« rief Tobias und erntete einen haßerfüllten Blick.

»Wie kannst du jetzt nur an so was denken?« zischte Claudia entrüstet.

Tobias zuckte mit den Achseln und kostete von seiner Kreation. Es schien ihn nicht auf der Stelle zu töten, im Gegenteil.

»Wels a la Tertiär! Das müßt ihr unbedingt probieren. Spezialität des Hauses.« Es schien ihm wirklich zu schmecken.

»Er wird schon wiederkommen.« Micha legte seine Hand auf Claudias Schulter, aber sie schüttelte sie ab und blickte beunruhigt ins Dickicht.

»Pencil!«

»Ehrlich, Micha, schmeckt großartig.«

»Du bist widerlich!« schrie Claudia ihn an. Sie war den Tränen nah.

»Guck mal, da ist er doch«, sagte Tobias mit vollem Mund. Micha fand ihn auch abstoßend, wie er da dieses Fleisch in sich hineinstopfte, nur weil er sein Spiel bis zum bitteren Ende durchziehen mußte. Wahrscheinlich schmeckte es widerlich. Aber was Pencil anging, hatte er recht. Der Dackel hockte tatsächlich pitschnaß, aber ansonsten wohlbehalten am Ufer und kläffte zweimal.

»Da bist du ja!« Claudia schien ein Felsbrocken vom Herzen zu fallen. »Mann, hatte ich eine Angst.« Sie zog das Floß wieder ans Ufer und ließ den kleinen Dackel hinüberspringen. Die Erleichterung, Pencil wiederzuhaben, war so groß, daß sie einen Bissen von Tobias’ Essen zu sich nahm, offensichtlich völlig gedankenlos, denn als ihr klarwurde, was sie da kaute, wich alle Farbe aus ihrem Gesicht, und sie begann zu würgen. Aber sie behielt den Fisch bei sich, und nachdem sie ihren ersten Schock überwunden hatte, aß sie sogar noch mehr. »Schmeckt wirklich nicht schlecht, Micha. Probier doch auch mal!«

Er weigerte sich standhaft und begnügte sich statt dessen mit ein paar Scheiben Zwieback, der von der Feuchtigkeit ganz weich geworden war.

Es begann dunkel zu werden.

»Ihhh!« schrie Claudia unvermittelt. »Guckt mal, er hat hier was.«

Sie hielt das eine Schlappohr von Pencil in die Höhe und zeigte auf einen dunklen Punkt darin.

»Ein Blutegel würd ich sagen.« So ganz sicher war Tobias sich allerdings nicht. »Hm, na ja, jedenfalls so etwas Ähnliches.«

Sie drängten sich alle drei um den kleinen Dackel, der eher durch die ungewohnte Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, beunruhigt schien als durch das Ding in seinem Ohr.

»Mach es weg!« sagte Claudia angewidert.

»Hoffentlich überträgt es keine Krankheiten«, sinnierte Micha laut vor sich hin und bereute es sofort, weil Claudia ihn entsetzt ansah.

Während sie den Hund an sich preßte, machte sich Tobias mit der kleinen Pinzette aus seinem Taschenmesser an Pencils Ohr zu schaffen, und im nächsten Moment hielt er, von einem kurzen Jaulen Pencils begleitet, das sich in der Umklammerung seiner Pinzette windende Etwas in die Luft, um es zu betrachten. Dann warf er es mit einem Schwung ins Wasser.

Mittlerweile war es ziemlich dunkel geworden, und sie zündeten die Petroleumlampe an, um etwas sehen zu können. Mit der Veränderung der Lichtverhältnisse schien auch ein Wechsel der geräuscherzeugenden Lebewesen einherzugehen, jedenfalls verstummten nach und nach die Stimmen des Tages und wurden von den nicht weniger rätselhaften Rufen der Nacht abgelöst.

Nach überstandener Operation verzog Pencil sich verstört in seinen Unterschlupf, einer an einer Seite offenen Holzkiste, die Herzog als eine Art kombiniertes Schrank- und Sitzmöbel auf den roh behauenen Stämmen befestigt hatte. Sie hockten schweigend auf ihren Matten, verscheuchten mit wedelnden Handbewegungen die sie noch immer umschwärmenden Mückenwolken und starrten auf die funzelige Petroleumlampe zwischen ihnen. In dem Maße, wie der Wald ringsum im Dunkel versank, schien diese mickrige kleine Flamme immer mehr zu ihrem einzigen Schutz zu werden. Sie rückten dichter zusammen. Sobald das Licht schwächer wurde oder zu flackern begann, langten augenblicklich drei helfende Hände nach der Lampe, um die kleine Flamme ja nicht erlöschen zu lassen. Sie starrten vor sich hin und lauschten wie gebannt auf jedes Geräusch.

Solange es die Lichtverhältnisse noch zuließen, versuchte Micha seine Empfindungen im Tagebuch festzuhalten.

Es ist wirklich merkwürdig, wie sehr wir uns an vertraute Laute klammern. Dabei sind wir eigentlich optische Wesen. Ein plötzliches Knacken im nächtlichen Wald, ein unvermitteltes Plätschern, wo vorher noch eine spiegelglatte Wasserfläche nur, und aus ist es mit unserem Seelenfrieden. Ein einziges unbekanntes Geräusch kann unser Wohlbefinden ins Wanken bringen. Das Zirpen der Grillen finden wir romantisch, weil es uns an Urlaub und laue Sommerabende erinnert, auch das Singen der Vögel und das Quaken der Frösche ist uns nicht unsympathisch. Durch Erfahrung wissen wir, wer wann welche Töne erzeugt. Wir haben uns daran gewöhnt und fühlen uns wohl dabei. In uns weniger vertrauten Gegenden der Welt werden diese festen Zuordnungen aber in Frage gestellt, beginnt die Phantasie uns einen Streich zu spielen, und wir werden nervös. Plötzlich sind es die Frösche, die singen, und die Vögel, die quaken, und kleine unscheinbare nagetierähnliche Wesen schreien nächtens so nervenzerfetzend, daß nichts mehr so ist, wie es sein sollte ...