Micha fuhr zusammen. Auch das Schreiben half nichts. Jedes Glucksen, jedes Schwappen des Wassers, jedes Rascheln im Wald und um so mehr jeder Laut aus unbekannten Kehlen ließ literweise Adrenalin durch ihre Adern strömen. Vielleicht bemerkten sie deshalb erst so spät, daß irgend etwas Großes, Schweres gegen das Floß bumste.
Sie erstarrten.
Die Frage: »Was war denn das?« wagte keiner von ihnen zu stellen, denn man hätte sie in dieser Nacht tausendfach stellen können. Statt dessen nahm Tobias die Lampe und schaute nach.
»Verdammter Mist!« fluchte er und begann wie wild mit dem Licht hin und her zu schlenkern. »Verschwindet!«
»Was ist los?«
Claudia und Micha standen sofort auf. Das Floß schwankte, hob sich an einer Stelle etwas aus dem Wasser und fiel mit einem Klatschen wieder zurück.
Das Licht traf auf einen breiten Krokodilschädel, der unmittelbar neben dem Floß aus dem Wasser ragte. Einen Vorderfuß hatte die Bestie schon auf den Rand gesetzt. Da noch eines. Rings um ihr Floß schienen sich diese Viecher zu versammeln wie die Fliegen ums Licht oder die Mücken um ihre Köpfe. Das hektische Flackern der Lampe und ihre nun einsetzenden gemeinsamen Schreckensschreie, in die auch Pencil mit wildem Gebell einstimmte, schienen ihnen aber nicht zu gefallen. Zwei, drei der Echsen rissen die Mäuler auf, schlugen mit ihren gepanzerten Schwänzen um sich, fauchten und grunzten und ... wichen zurück.
»Ich halte das hier keine Minute länger aus«, sagte Claudia kategorisch, als es ihnen endlich gelungen war, den Krokodilen etwas Respekt einzuflößen.
»So, aha, und was hast du statt dessen vor, wenn ich fragen darf?« Tobias sah sie herausfordernd an.
Claudia wußte selber, daß sie keine Alternative hatten, als hier auszuharren, bis die Nacht überstanden war. Im Dunkeln weiterzufahren wäre Wahnsinn gewesen. Sie zuckte mit den Schultern und setzte sich wieder auf ihre Matte.
Jetzt sind die Krokodile verschwunden. Wir mußten noch zweimal zu unserer Lampe greifen, weil diese Mistviecher es immer wieder versuchten. Aber seitdem haben wir mit einem neuen Problem zu kämpfen, vielleicht dadurch ausgelöst, daß Tobias den Docht hochgedreht und unsere Lampe auf maximale Helligkeit gestellt hat, um die, Gott sei Dank, ziemlich schreckhaften Krokodile zu vertreiben. Ich stelle mir vor, ich als lichtliebendes Wesen schwebe hoch oben in der feuchtigkeitsgesättigten Luft über diesem dunklen Labyrinth aus Wasserläufen und Pflanzen, und irgendwo, mitten in diesem tiefschwarzen Wald und in mondloser dunkler, feuchter Nacht leuchtet zum ersten und einzigen Mal in Millionen von Jahren ein Licht auf, ein Licht, so hell, so lebendig, so unwiderstehlich, daß es mich magisch anzieht.
So oder so ähnlich ist es wohl gewesen. Das Resultat ist jedenfalls ein wahres Bombardement mit Insekten von zum Teil beträchtlicher Größe. Selbst wenn wir die Helligkeit reduzieren, ändert sich nur wenig. Handflächengroße Nachtschmetterlinge flattern uns im Gesicht herum, mit lautem Gebrumm landen fingerdicke Käfer. Vorhin fühlte ich einen kräftigen Stoß gegen meinen Kopf, und als ich danach greifen wollte, fühlte ich etwas Spitzes, Stachliges, das sich mit aller Kraft in meinen Haaren festkrallte, als ich zupackte. Es entpuppte sich als ein unfaßbar häßliches Heuschreckenungetüm, das gut und gerne seine zwanzig Zentimeter lang war. Unter anderem bin ich auf diese Weise auch jenem auffälligen Prachtkäfer wieder begegnet, mit dem die ganze Sache einmal angefangen hat. Jetzt weiß ich, wie Sonnenberg zu dem Tier gekommen ist.
Es ist ungemein faszinierend, was da unsere Lampe ansteuert. Auf jeden Fall ist es eine willkommene Abwechslung, die wenigstens für Minuten verhindert, daß ich ununterbrochen an meine entsetzlich juckenden Mückenstiche denken muß. Mein Gesicht glüht immer noch, und es kostet mich auch weiterhin ungeheure Überwindung, nicht zu kratzen. Gut, daß es hier keinen Spiegel gibt. Wahrscheinlich würde ich mich selbst nicht mehr erkennen. Tobias sieht jedenfalls aus, als sei er einem Horrorfilm entsprungen (was bei ihm allerdings nicht allzuviel zu bedeuten hat). Über Claudia schweige ich rücksichtsvoll. Einen schönen Menschen kann sowieso nichts entstellen.
Im Fachjargon nennt man das, was unsere Petroleumlampe für diese Tiere darstellt, eine Lichtfalle. Eimerweise könnte ich in dieser Nacht die spektakulärsten Käfer, Wanzen und wahnsinnigsten Nachtschmetterlinge einsammeln. Ich habe sogar damit angefangen, einzelne, besonders sensationelle Exemplare in eine leere Büchse zu stecken, wo sie laut an der Blechwand kratzend über- und umeinan-derherumkrabbeln. Ich habe mir schon ausgemalt, wie sie sich wohl in meinen Sammlungskästen machen werden und daß ich wohl anbauen müßte, um das alles unterzubringen. Aber dann ist mir die Sache über den Kopf gewachsen. Der Nachschub ist einfach unerschöpflich, und ich entdecke immer neue Arten, eine interessanter als die andere. Gleichzeitig muß ich daran denken, wem ich diese Kleinodien wohl einmal zeigen kann, sollte ich jemals wieder den Weg nach Hause und sie den Weg in meine Sammlung finden.
Scheiße! Niemandem werden wir später erzählen können, was wir hier erlebt haben. Es ist schrecklich. Was sollen wir eigentlich sagen, wenn uns später jemand fragt, wo wir gewesen sind?
Ich habe die Tiere eben freigelassen.
Ist es nicht seltsam, daß dieser von unterschiedlichsten Lebensformen überquellende Urwald indirekt zur Vernichtung seiner zukünftigen Entsprechungen beitragen wird? Wirklich ein verrückter Gedanke - die Idee stammt von Claudia: Eben dieser Wald hier wird im Laufe von Jahrmillionen unter Tonnen von Gestein zu der Braunkohle werden, die wir verfeuern und durch unsere extrahohen Schornsteine jagen. Die freiwerdenden Stick- und Schwefeloxide werden zum sauren Regen und zu dem mitteleuropäischen Waldsterben beitragen und unsere Lungen traktieren. Wenn das kein Treppenwitz der Erdgeschichte ist.
Spät in der Nacht begann es zu regnen. Aus einem pechschwarzen Himmel schüttete es wie aus Kübeln, und sie waren dieser himmlischen Sintflut vollkommen schutzlos ausgeliefert, da sie für einen solchen Fall keinerlei Vorkehrungen getroffen hatten. Nur Pencil in seiner löchrigen Holzkiste saß einigermaßen im Trockenen. Es regnete so stark, daß man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte. Glücklicherweise ließ das Unwetter später nach, aber es nieselte noch stundenlang vor sich hin, und nasser als sie jetzt waren, konnten sie ohnehin nicht mehr werden.
Trotz aller Widrigkeiten mußten sie wohl doch irgendwann eingeschlafen sein, jedenfalls wachte Micha am nächsten Morgen völlig durchnäßt und mit schmerzenden Gliedern auf und starrte in die weit aufgerissenen Augen einer kleinen, sehr seltsamen Kreatur, die auf einem Ast über ihnen saß und glotzte. Sie hatte Ähnlichkeit mit kleinen Nachtaffen wie den Buschbabys, nur daß dieser hier eher wie ein Buschgreis aussah. Sein winziges Gesicht mit den fransigen Ohren, den riesigen Augen und vielen Runzeln und Falten wirkte, als sei es uralt, wie ein Kobold, ein winziger, weiser Wächter dieses geheimnisvollen Dschungels. Nach dieser Nacht konnte Micha nichts mehr erschüttern, und mit einem lässigen »Schsch!« verscheuchte er das Wesen, das sich langsam von Ast zu Ast hangelnd verzog. Tobias, dem er später von dem Tier erzählte, nannte es Nekrolemur. Ein ungemein passender Name! Tobias ärgerte sich darüber, daß er es nicht gesehen hatte, und machte Micha Vorwürfe, daß er ihn nicht geweckt hatte. Er wurde richtig böse und meinte, er sei hier nicht zum Schlafen hergefahren und er würde ihn in Zukunft auch nicht mehr darauf aufmerksam machen, wenn er etwas Interessantes entdeckte.