Bald war Leben auf dem Floß, und Pencil, der aussah wie ein begossener Pudel, weil ihm das durchnäßte Fell am schmalen Körper klebte, bestand in der ihm eigenen Art darauf, wieder an Land gesetzt zu werden. Seine Bitte wurde ihm verwehrt. Diesmal mußte er mit den Ritzen zwischen den Floßbaumstämmen vorliebnehmen. Sie zogen ihre durchnäßten Sachen aus.
Zum Frühstück aßen sie den nun noch pappiger gewordenen Zwieback. Auf den Kaffee mußten sie verzichten, weil der stinkenden schwarzen Brühe um sie herum nicht zu trauen war und weil sie kein Petroleum zum Abkochen verschwenden wollten. Sie hatten in der ganzen Aufregung des Vorabends vergessen, ihre Flaschen zu füllen und die Wasserreinigungstabletten zum Einsatz zu bringen. Das holten sie jetzt nach, aber sie mußten sich mit trockenen Kehlen gedulden, bis die Tabletten ihre keimtötende Wirkung getan hatten.
Sie setzten sich wieder in Bewegung, verließen vorsichtig stakend den Seitenarm und bewegten sich langsam weiter flußaufwärts, jedenfalls in die Richtung, die sie für flußaufwärts hielten. Das Wasser schien zu stehen. Eine Strömung war fast nicht auszumachen. Micha war sich ganz und gar nicht sicher, ob sie überhaupt in die richtige Richtung fuhren, aber er schwieg. Er konnte sich kaum noch daran erinnern, wie es hinter der nächsten Flußbiegung ausgesehen hatte und verließ sich darauf, daß wenigstens die anderen wußten, was sie taten.
Nachdem sie die Nacht zwar alles andere als komfortabel, aber doch heil und unversehrt überstanden hatten, verlor die sie umgebende Wildnis ein wenig von ihrem Schrecken. Der fehlende Schlaf und das drückende Treibhausklima machten ihnen natürlich noch arg zu schaffen. Sie saßen fast nackt im Boot, beschmierten sich mit dicken Schichten Sonnencreme und Antimückenmittel, schwitzten ununterbrochen und stanken bestialisch, aber es gab jetzt Momente, in denen sie die üppige, fremdartige Fülle dieser Natur einigermaßen angstfrei genießen konnten.
Jede Biegung des breiter werdenden Flußes barg neue Überraschungen. Immer wieder verstummten ihre Gespräche, weil sie atemlos vor Spannung darauf warteten, was ihnen nun wohl geboten würde. Zeitweise verbreiterte sich der Flußlauf zu kleinen Seen, in denen Hunderte von Seerosen blühten. Jetzt sahen sie, wie die Pflanze, die Sonnenberg gepreßt und getrocknet hatte, in lebendem Zustand aussah: weiß, schneeweiß.
»Ist sie das?« fragte Claudia, und Tobias nickte grinsend.
»Ich nehm’s an«, sagte er.
»Schön!«
»Ja, wunderschön«, stimmte Micha ihr zu.
Der Käfer und die Seerose, damit hatte alles angefangen.
Den seltsamen Baum sah zuerst keiner. Ohne daß sie es bemerkten, wäre das Floß fast daran vorbeigetrieben. Alle starrten gerade auf die andere Flußseite, weil sich dort im Blätterdach irgend etwas gerührt hatte. Claudia war die erste, die sich wieder umdrehte.
»Huch, guckt euch das mal an!«
Aus größerer Entfernung sah es so aus, als wüchsen an den ausladenden Ästen des Baumes große, wie weiße Wattebäusche aussehende Blütenstände. Aber aus der Nähe war eindeutig zu erkennen, daß dieses Weiße etwas war, das die eigentlichen Blüten verhüllte.
»Sieht aus wie der Gardinenstoff meiner Oma«, sagte Tobias und griff nach einem der rätselhaften Gebilde, als sie das Floß dorthin manövriert hatten. Ein kleines genähtes Säckchen aus feinem Gazestoff war über die Astspitze gestülpt worden. Darunter befand sich ein klebriger verfaulter Blütenstand.
»Kann mir mal einer erklären, was das hier darstellen soll?« fragte Tobias und hielt das verschmutzte Stoffsäckchen in die Höhe.
Claudia und Micha zuckten nur mit den Schultern. Pencil knurrte.
Kurz danach begann es wieder zu regnen. Sturzbäche ergossen sich aus schier unerschöpflichen Quellen, und die vorsichtige Begeisterung über den eozänen Dschungel ließ auf Seiten der drei Floßschiffer rasch wieder nach. Nach zwei Stunden, in denen es ununterbrochen geregnet hatte und sie sich nur unter größten Schwierigkeiten vorangetastet hatten, waren sie zur Umkehr entschlossen. In dem Unwetter sah die ganze Welt aus, als hätte sie eine Art schwerwiegende Bildstörung. Es war dunkel, der Wind kam in Böen, die ihnen die warmen schweren Tropfen ins Gesicht peitschten, und immer, wenn sie glaubten, der Regen könne nun nicht mehr stärker werden, öffneten sich irgendwo neue Schleusen, wurde das Prasseln lauter, bedrohlicher, nahm die Dichte der Tropfen ihnen fast die Luft zum Atmen.
Der Fluß schwoll an. Sie sahen nicht viel und konnten die beiden Ufer durch den dichten Regenvorhang nur noch schemenhaft wahrnehmen. Aber sie spürten deutlich, wie die Strömung, gegen die sie ankämpfen mußten, von Minute zu Minute stärker wurde. Sie kamen kaum noch voran.
Als er sich gerade mit aller Kraft dagegen stemmte, brach plötzlich Michas Stange. Er stürzte der Länge nach auf den Floßboden, riß auch Claudia um, die direkt neben ihm stand, und im nächsten Moment wurde ihr Gefährt schon von der Strömung mitgerissen. Tobias schrie auf und klammerte sich an die Ruderpinne. Es begann eine rasante, an Geschwindigkeit stetig zunehmende Fahrt durch die verschlungenen Wasserstraßen des Waldes. Sie waren nur noch ein Spielball des abfließenden Wassers, die Flutwelle schob sie vor sich her, zusammen mit einer immer größer werdenden Masse an Laub und Ästen und einigen verzweifelt rudernden Tieren. Sie stießen gegen Baumstämme und Felsen, wurden heftig durchgeschüttelt und hin und her geworfen, begannen sich langsam zu drehen. Es hatte keinen Zweck dagegen anzukämpfen. Alles, was sie tun konnten, war, sich mit aller Kraft an den Stricken festzuhalten, mit denen die Baumstämme aneinander befestigt waren, darauf zu vertrauen, daß sie das primitive Floß trotz allem noch zusammenhielten, und zu hoffen, daß sie irgendwie heil durchkamen. Tobias versuchte verzweifelt, die Stellung zu halten und ihrer rasenden Fahrt mit dem Ruderblatt so etwas wie eine Richtung zu geben.
Erst, als der Regen etwas nachließ und das Floß auf einer breiten Wasserfläche zur Ruhe kam, rappelten sie sich langsam wieder auf. Zuerst hatten sie Angst, völlig die Orientierung verloren zu haben. Aber dann folgte eine Überraschung. Es hatte den Anschein, als dulde dieser Wald sie nicht länger unter seinem Blätterdach, als wolle er sie so schnell wie möglich wieder loswerden. Wie einen widerlichen Fremdkörper hatte der Dschungel sie wieder ausgespuckt, aus seinen unergründlichen Tiefen hervorgewürgt wie unbekömmlichen Ballast.
Ein paar hundert Meter weiter öffnete sich der Wald und in der vom Regen dampfenden Luft konnten sie wieder die Weite der Savanne erahnen.
8
Fußspuren
»Ich glaub es einfach nicht! Das ist doch nicht möglich«, rief Axt unwillkürlich aus und setzte schnell den schweren Rucksack ab. Schon die letzten Kilometer, die er am Flußufer entlanggelaufen war, waren ihm wie ein wunderbarer Garten Eden erschienen, aber für das hier fehlten ihm einfach die Worte. Mit heruntergeklapptem Unterkiefer kauerte er sich hinter einen Felsen und spähte zum anderen Flußufer hinüber.
Diese Tiere hier anzutreffen, verblüffte ihn ungemein. Es widersprach allem, was man über sie wußte. Die beiden massigen Platybelodons, eine spezielle Art der Schaufelzähner, schienen ihn nicht bemerkt zu haben, jedenfalls machten sie ihrem Namen alle Ehre und schaufelten seelenruhig weiter Unmengen von Wasserpflanzen in sich hinein. Und er kannte diese Pflanzen.