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Er müßte sich schon sehr täuschen, wenn die Seerosen, die da drüben in dichten Teppichen auf dem Wasser schwammen, keine Barclaya waren, dieselben Seerosengewächse also, deren fossile Überreste sie im Ölschiefer von Messel gefunden hatten.

Erst jetzt wurde ihm bewußt, wo er sich befand, was mit ihm geschehen war, nachdem er Sonnenbergs Höhle durchquert hatte. Die letzten Tage waren wie im Rausch an ihm vorübergeglitten. Immer nur den einen Gedanken im Kopf, daß er sich beeilen mußte, wenn er die Katastrophe verhindern wollte, daß er keine Zeit verlieren durfte, daß es auf jede Minute ankam, hatte er sich kaum eine Pause gegönnt. Seit Tagen waren seine Augen ausschließlich starr nach vorne gerichtet. Daß es schon zu spät sein könnte, daß das Unheil vielleicht schon lange seinen Lauf genommen hatte, versuchte er zu verdrängen. Mit seinem Faltboot und dem kleinen Außenbordmotor, dessen lautes Geknatter ihn die letzten Tage begleitet hatte, war er über die Meeresbucht und den Fluß mit seinem braunen Wasser gerast.

Aber erst auf der anderen Seite des Bergzuges, in den letzten Stunden im Schatten dieses herrlichen Galeriewaldes mit seinem bunten Leben und angesichts dieser urzeitlichen Riesen in der flachen Bucht gegenüber, explodierte die ungeheuerliche Erkenntnis seines Hierseins mit der Wucht einer Granate. Fast verzweifelt suchte er nach einem Weg, das alles irgendwie zu verarbeiten. Am liebsten hätte er »Moment mal!« gerufen, eine Auszeit genommen, den Film für ein paar Minuten angehalten, wäre hinaus in die Küche oder auf die Terrasse gegangen, um sich eine kurze Atempause zu verschaffen. Aber das hier war kein Film.

Die Euphorie, die ihn überkam, ließ seine Haut prickeln, als bade er in sprudelndem Mineralwasser, und sein Gesicht glühte wie nach zwei doppelten Whiskys.

All das hier lebte. Es lebte!

Und als wollte ihm diese Welt noch einen weiteren Beweis ihrer Existenz liefern, hörte er ein lautes, durchdringendes Trompeten, und wenig später erschien hinter einer Baumgruppe eine kleine Herde gewaltiger Dinotherien, eine weitere Elefantenart, die hier und jetzt, ginge es nach den Erkenntnissen der Wissenschaft, eigentlich nichts zu suchen hatte. Es war überwältigend, mit welcher Eleganz und Leichtigkeit die riesigen Tiere sich fortbewegten. Mit weichen, federnden Schritten liefen sie auf das Ufer zu.

Alles, was er bisher gesehen hatte, die Meeresbucht, der träge dahinströmende Fluß, die karge Wüstenlandschaft und die Berge, durch die er hier heraufgestiegen war, selbst die rauchenden Vulkankegel in der Ferne, all das hätte genausogut ein Teil seiner Welt sein können, jener Welt, die er offenbar auf rätselhafte und unbegreifliche Weise hinter sich gelassen hatte. In den letzten Tagen hatte er sich allerdings auch kaum Zeit gelassen, die neue Umgebung näher zu untersuchen, hatte immer nur verbissen nach vorn geschaut, unermüdlich angetrieben von seiner inneren Unruhe, der vagen Hoffnung, noch etwas ausrichten zu können. Er hatte ein paar Vögel gesehen, aber selbst ihm als Fachmann wäre es unmöglich gewesen, sie aus dieser Entfernung als Bewohner des mittleren Tertiärs zu identifizieren. Und wenn überhaupt etwas, dann hätte er ja nur das gekannt, was nach Jahrmillionen noch von ihnen übriggeblieben war, ihre Skelette oder sogar nur Fragmente davon, eingebettet in hartes Gestein oder weichen Ölschiefer. Ihm fiel Sonnenbergs seltsame Frage wieder ein: Wie viele Vogelarten blieben wohl übrig, wenn man nur ihre Skelette kennen würde?

Auch die paar Pflänzchen am Flußufer boten bei oberflächlicher ruheloser Betrachtung nichts Besonderes. Sie unterschieden sich in nichts von den Unkräutern, die er an ruhigen Sonntagnachmittagen aus den Blumenbeeten seines Vorgartens zupfte. Nein, das alles hatte ihn bisher wenig beeindruckt, aber jetzt .

So dumm sich das für einen gestandenen Wissenschaftler wie ihn auch anhörte, aber er hatte bisher nicht die geringste Vorstellung davon gehabt, wie lebendig das alles einmal gewesen war. Außer während seiner seltsamen Anfälle in der Grube, und obwohl er es eigentlich hätte besser wissen müssen, hatte er bisher in seinen Fossilien nur tote Studienobjekte gesehen.

Mit einem Schlag wurde ihm klar, wie wenig sie eigentlich wußten über diese versunkenen Welten, welch elendes Stückwerk sie zu betreiben gezwungen waren mit ihren lächerlichen paar Knochen, über denen sie wochenlang brüteten und an denen sie alles maßen, was sich nur messen ließ, um sich mit dem dafür erforderlichen großen Aufwand über die kümmerlichen Resultate hinwegzutrösten. Es war erschreckend, auf wie wenig Material sich etwa die gesamte Paläoanthropologie stützte. All diese Vor- und Früh- und Urmenschenknochen zusammengenommcn füllten wahrscheinlich kaum den Wohnzimmerschrank einer deutschen Durchschnittsfamilie, die wissenschaftlichen und populären Abhandlungen darüber allerdings eine umfangreiche Bibliothek.

Der Schmerz über diese Erkenntnis blieb aus. Die Großartigkeit der Natur, die ihn jetzt umgab, überwältigte ihn und er vergaß, warum er hier war, hockte den halben Tag hinter seinem Felsen und staunte und schaute, ohne irgend etwas anderes zu empfinden als Glück und Zufriedenheit. Vieles warf in nur wenigen Minuten alles über den Haufen, was er und seine Kollegen aus aller Welt in mühevoller Kleinarbeit zusammengetragen hatten. Platybelodon, dieser Schaufelzähner, der keine hundert Meter von ihm entfernt an seinen Wasserpflanzen kaute, war bisher nur aus dem Miozän, also dem späten Tertiär bekannt, rund zwanzig Millionen Jahre nach der Messelzeit des Eozän. Dasselbe galt für das Dinotherium, diesen merkwürdigen Elefanten mit den nach unten gebogenen Stoßzähnen. Auch dieses Tier war somit viel älter, als sie bisher vermutet hatten. Brontotherien, die sich in großer Zahl an der Tränke einfanden, waren nur aus Nordamerika und Ostasien bekannt und dürften eigentlich noch lange nicht das Licht der Welt erblickt haben, und diese grotesken Burschen mit den drei Hornpaaren am Kopf, vermutlich eine zur Familie der Uintatherien gehörende Art namens Eobasileus, hatte man nur in Wyoming nachgewiesen.

Was, um Gottes willen, hatte er da eigentlich sein halbes Leben lang getrieben, nur Unsinn fabriziert, seitenweise Irrtümer und Halbwahrheiten verbreitet?

Daß sie keine Fossilbelege dafür hatten, bedeutete natürlich nicht, daß diese Wesen nicht doch schon früher existiert haben könnten, das hatte er immer schon gewußt, nicht erst, seit Sonnenberg ihn darauf aufmerksam machte. Damit ein Kadaver derart lange Zeiträume überdauern konnte, bedurfte es zahlreicher glücklicher Umstände, die nur in den seltensten Fällen gegeben waren. Genau wie in der Neuzeit hatten damals Millionen von Tierarten die Welt bevölkert, durch handfeste Beweise belegt waren vielleicht einige tausend. Auch was den Zeitpunkt des Auftretens und Aussterbens anging, gab es natürlich beträchtliche Unsicherheiten, die auch kein ernst zu nehmender Kollege in Abrede stellen würde. Wie oft hatte man etwa die Entstehung des Menschen auf Grund neuer Funde zurückdatieren müssen. Aber daß sie selbst in relativ jungen und gut überlieferten Epochen der Erdgeschichte wie dem Tertiär so katastrophal danebenlagen, hätte er bisher nicht für möglich gehalten.

Erst spät am Nachmittag, als die tiefstehende Sonne die ganze Landschaft in goldenes Licht tauchte, riß er sich los und suchte nach einem geschützten Uferabschnitt, wo er sein Lager aufschlagen konnte.

Am Fuße der Stromschnellen, kurz bevor der Aufstieg in die Berge begann, hatte er ein relativ großes Kunststoffruderboot entdeckt. Es lag hinter einem Felsen versteckt ganz in der Nähe des Flußufers, mit dem es eine deutliche Schleifspur verband. Unter den Sitzbänken fand er noch einige zurückgelassene Ausrüstungsgegenstände, einen Gummihammer, einen halbvollen Petroleumkanister, auch einige leere Konservendosen, die noch keine Spuren von Rost aufwiesen.