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Die letzte Nacht hatte er neben einer alten Feuerstelle verbracht, die ihm, auch wenn er kein besonders versierter Fährtenleser war, nur wenige Tage oder Wochen alt gewesen zu sein schien. Die Tatsache, daß er auf ihr Boot gestoßen war, und die Vorstellung, daß dies ein Ort gewesen sein könnte, ja mußte, wo Tobias und sein Freund übernachtet hatten, verlieh ihm Flügel. Es waren die ersten sichtbaren Hinweise auf die Gegenwart von Menschen, die er entdeckt hatte. Und wer, wenn nicht diese beiden, hätten hier wohl ein Feuer anfachen sollen? Er mußte sich bremsen, um nach der Entdeckung der Feuerstelle nicht sofort weiterzumarschieren, den beiden Studenten, wie schon in den Tagen zuvor, hinterherzuhetzen, damit er nicht zu spät kam. Aber dann siegte die Müdigkeit, die ihm von dem anstrengenden Marsch in sengender Hitze in den Knochen steckte. Wenigstens überzeugte ihn diese Entdeckung endlich davon, daß er auf dem richtigen Wege war. Sie ließ die letzten nagenden Zweifel verstummen, die ihn bis dahin immer wieder bedrängt hatten.

Als er vor ein paar Tagen mit seinem Wagen von Berlin aus erst nach Süden, dann in Richtung Osten raste und schließlich stundenlang in einer endlosen stinkenden Autoschlange an der tschechischen Grenze warten mußte, hatte er immer wieder an Sonnenberg denken müssen. Er hatte sich gefragt, ob der alte Gauner ihn nicht womöglich auf eine völlig falsche Fährte geschickt hatte. Aber letztlich beruhigte er sich wieder, dachte an die echte Verzweiflung auf dem Gesicht des kleinen Mannes, als er begriff, was das Röntgenbild mit dem Schädel zu bedeuten hatte. Axt hatte sich die Sache viel schwieriger vorgestellt. Viel mehr als ein kurzer Blick auf das mitgebrachte Foto und ein paar eindringliche Fragen seinerseits waren nicht nötig gewesen, um Sonnenberg zum Reden zu bringen. Als er ihn anhand des Röntgenbildes mit Tobias’ Tod, oder richtiger, seinem möglichen Tod konfrontiert hatte, sprudelte es nur so aus ihm heraus.

Außerdem waren da die Fotografien gewesen, besonders die von der Höhle, und die verblichene Markierung auf der alten Landkarte. Er glaubte nicht daran, daß Sonnenberg sich die Mühe gemacht und lauter falsche Indizien konstruiert hatte, nicht bei dem heimlichen Vergnügen, das der Alte offenbar dabei empfand, wenn er seinen tertiären Prachtkäfer überall herumzeigen konnte. Trotzdem nagten noch tagelang Zweifel an seiner Entschlossenheit, bis jetzt, bis er zuerst das Boot und dann die Feuerstelle entdeckt hatte.

Axt mußte sich immer wieder daran erinnern, daß Tobias nicht notwendigerweise schon tot war, obwohl er seine Leiche, sein fossiles Skelett, ja mit eigenen Augen gesehen hatte. Der Gedanke widersprach dem gesunden Menschenverstand, erzeugte verwickelte Knoten im Gehirn und war doch ganz logisch. Es gab noch eine Chance, eine winzige Möglichkeit, es zu verhindern, sonst hätte all dies hier keinen Sinn. Axt war fest davon überzeugt, daß er es schaffen konnte. Tobias hatte noch vor wenigen Wochen gelebt. Erst auf dieser Reise würde er irgendwo den Tod finden. Um sich anzustacheln, um in seinen Bemühungen nicht nachzulassen, versuchte Axt sich immer wieder klarzumachen, daß dieser Moment noch nicht eingetreten sein mußte. Tobias hatte ihm ja quicklebendig gegenübergestanden, während gleichzeitig die große Schieferplatte mit seinen Überresten im Keller der Messeler Station herumlag. Außerdem blieb selbst im ungünstigsten Falle noch offen, was aus dem anderen Zeitreisenden, diesem Michael, geworden war. Daß er sein Skelett nicht gefunden hatte, hieß ja nicht, daß er nicht vielleicht auch verletzt oder gar tot sein könnte. Vielleicht irrte er hier irgendwo in der Gegend herum. In jedem Fall mußte er sich beeilen, durfte sich von Zweifeln und Bedenken nicht aufhalten lassen.

Er hatte den völlig verunsicherten und niedergeschlagenen Sonnenberg in seinem Institut zurückgelassen und war sofort in einen Laden für Expeditionsbedarf gehetzt. Diese Läden gab es in Berlin in überraschend großer Zahl, so als ob die halbe Stadt aus Extrembergsteigern, Dschungelwanderern, Antarktisdurch-querern und anderen Überlebenskünstlern bestünde. Dort hatte er sich mit allem eingedeckt, was er zu benötigen glaubte. In einem anderen Laden hatte er das Boot gekauft und kurz entschlossen auch den Außenbordmotor, damit er schneller vorankam. Noch am selben Abend war er dann in Richtung tschechische Grenze aufgebrochen.

Das Schlimmste hatte er sich bis zum Schluß aufgehoben.

Er stieg in einem kleinen Hotel in der Nähe der Grenze ab und rief dann spät abends von einer Telefonzelle aus zu Hause bei Marlis an. Sie hatte sich natürlich schon große Sorgen um ihn gemacht, und er mußte ihr nun sagen, daß er für ein paar Tage, vielleicht Wochen wegfahren müsse und daß sie in dieser Zeit nichts von ihm hören würde. Es hatte ihm Höllenqualen bereitet, dieses Telefongespräch mit seiner weinenden Frau. Er sah ihr entsetztes Gesicht vor sich, sah, wie ihr die Tränen herunterliefen, fühlte die Angst, die sie um ihn hatte.

Gegen das Glas gelehnt, die Hände auf das Gesicht gepreßt, stand er danach noch minutenlang in der Telefonzelle, dem einzigen Lichtfleck weit und breit auf der verlassenen Dorfstraße. Dann ging er in sein Hotel zurück und versuchte noch ein paar Stunden zu schlafen.

Ein paar Tage nach seiner Begegnung mit den Schaufelzähnern wanderte er noch immer am Flußufer entlang, die Augen auf den Boden gerichtet. Er war schon hin und wieder auf Fußspuren gestoßen, auf geriffelte Abdrücke im Staub, die sich an besonders windgeschützten Stellen gehalten hatten.

Was ihn verwirrte, war, daß er dort mehr als zwei unterschiedliche Abdrücke zu erkennen glaubte. Einer trug Turnschuhe mit einem groben Muster aus Querrillen. Dann gab es riesige Abdrücke ohne Struktur, einfach nur plattgedrückter Sand in Fußform, vielleicht von abgelaufenen Sandalen. Aber da war noch ein dritter Fuß, deutlich kleiner als die beiden anderen. Er hinterließ regelmäßige Kringel, die wie ein zusammengesetztes Puzzlespiel aussahen. Und zwischendurch ab und an die Abdrücke eines Tieres. Wahrscheinlich war es später hier entlanggelaufen.

Seitdem schaute er immer wieder auf den Boden, um vielleicht eine Stelle zu finden, an der er noch mehr erkennen konnte. Die beiden größeren Abdrücke stammten wahrscheinlich von Tobias und Michael. Aber wer machte die kleineren? Von einer dritten Person war bisher nie die Rede gewesen, weder bei Sonnenberg noch im Gespräch mit Rothmanns Doktorandin. Er war verunsichert.

Plötzlich hörte er im Gebüsch neben sich ein Geräusch, ein tiefes Brummen, dann ein Krachen und Brechen von Ästen, ein lautes Schnauben.

Zuerst dachte er an ein großes Raubtier, einen Säbelzahntiger vielleicht. Der Zahn, den Sonnenberg ihm gezeigt hatte, war sehr, sehr eindrucksvoll gewesen, mindestens zwanzig Zentimeter lang. Er mußte immer wieder daran denken. Moderne Katzen schlagen ihre Beute, indem sie gezielte Tötungsbisse ansetzen. Sie drücken ihren Opfern die Kehle zu oder brechen ihnen das Genick. Die tertiären Säbelzahnkatzen aber gingen ganz anders vor. Sie rissen ihren Beutetieren mit Hilfe der riesigen Zähne tiefe, stark blutende Wunden und rannten dann so lange geduldig hinter ihren Opfern her, bis diese durch den enormen Blutverlust vor Erschöpfung und Entkräftung zusammenbrachen. Kein schöner Tod.

Er hatte schon mehrmals große Tierkadaver in der Savanne liegen sehen, abgenagte und ausgeblichene Knochen, hohle Lederhäute, ausgehöhlte Brustkörbe, die wie große Käfige aussahen. Seltsam, dachte er noch, wie selbstverständlich er plötzlich mit dem Auftauchen von Tieren rechnete, von denen er noch wenige Tage zuvor geschworen hätte, sie seien bereits seit Jahrmillionen ausgestorben. In seinem Kopf geriet da etwas in Unordnung.

Er rannte schnell zum Fluß hinunter. Zur Not würde er sich einfach ins Wasser werfen, auch auf die Gefahr hin, daß er vom Regen in die Traufe gelangte. Vielleicht waren Säbelzahnkatzen ja wie ihre Nachfahren wasserscheu. Er setzte den Rucksack ab und zückte das Messer, das er am Gürtel trug, eine angesichts der Dimensionen tertiärer Säugetiere eher lächerliche Geste, mit der er trotz allem eine Spur von Sicherheit gewann. Er wartete.