Lange Zeit tat sich nichts, und seine Anspannung begann nachzulassen. Als er wieder weiterlaufen wollte, nahm er eine Bewegung war. Etwas Graubraunes, Rundliches, das die Büsche überragte und das er bisher nicht wahrgenommen oder einfach für einen Felsen gehalten hatte, schwankte leicht hin und her, und im nächsten Moment brach ein Monstrum durch das Gesträuch, ein Berg aus muskelbepackten Knochen. Merkwürdig, dachte er einen Moment lang, und es schien, als ob die Zeit stillstand, selbst in Situationen wie dieser konnte er in Tieren kaum etwas anderes als mit Muskeln und Sehnen bepackte, nach biomechanischen Gesetzen arbeitende Knochengerüste sehen. Das war wohl berufsbedingt. Der Riese wirkte ebenfalls irritiert. Er blinzelte ihn aus winzigen, kurzsichtigen, nicht gerade herausragende Sensibilität verratenden Augen an und schnaubte wie eine Dampflokomotive.
Dann ging alles sehr schnell. Axt hatte etwas Kleineres, Flinkes, Geschmeidiges erwartet und der unvermittelte Auftritt dieses Giganten, eines Brontotheriums mit knapp drei Metern Schulterhöhe, brachte ihn so aus dem Gleichgewicht, daß er nach hinten kippte, laut klatschend im Fluß landete und sofort von einer kräftigen Strömung mitgerissen wurde. Der Wasserstand des Stromes war in den letzten Tagen deutlich gestiegen. Er konnte gerade noch sehen, wie das Untier mit blinder Wut seinen Rucksack traktierte, da fand er sich schon zwanzig, dreißig Meter flußabwärts wieder. Irgend etwas zerrte an seinen Beinen, drohte, ihn unter Wasser zu ziehen, im nächsten Moment schoß er wie ein Korken mit dem Oberkörper über die Wasseroberfläche. Er strampelte, kämpfte mit aller Kraft gegen die Strömung an, bis er nach einem über das Ufer hinausragenden Ast greifen und sich daran Stück für Stück aus dem Wasser ziehen konnte. Als er triefend vor Nässe am Ufer wieder zurückschlich, war das Brontotherium spurlos verschwunden, und sein Gepäck sah aus, als ob es unter eine Dampfwalze geraten wäre.
Er hängte sich rasch den arg gebeutelten Rucksack über die Schulter und lief so schnell er konnte weiter, bis er in offenes Gelände gelangte, wo er ausruhen und sich seine nassen Sachen ausziehen konnte. Er war so fertig, daß er beschloß, an Ort und Stelle die Nacht zu verbringen. Ihm tat alles weh und er hatte das Gefühl, keinen Meter mehr gehen zu können.
Bei den ersten Anzeichen der Dämmerung streifte er müde durch das Gelände, um nach Feuerholz zu suchen. Er stand noch ganz unter dem Eindruck seiner nachmittäglichen Begegnung, ärgerte sich über seine Unaufmerksamkeit und nahm sich vor, in Zukunft respektvollen Abstand zu dichten Gebüschen zu halten, bei denen man hier nie wissen konnte, was sich dahinter verbarg. Er war leichtsinnig geworden. Außerdem war es vielleicht auch nicht besonders klug, andauernd auf den Boden zu starren. Die Lebewesen hier scherten sich einen Teufel darum, was für ein schönes hochentwickeltes und intelligentes Säugetier er war. Er war kein wildniserfahrener Trapper, sondern ein steifer, zu Fettansatz neigender Schreibtischhengst und sollte sich, verdammt noch mal, vorsehen, wenn er dieses Abenteuer unversehrt überstehen wollte.
Seine Suche führte ihn hinunter zum Fluß, wo immer viel Treibholz herumlag. Kaum hatte er die Uferböschung erreicht, sah er plötzlich ein ganzes Stück weiter flußaufwärts ein Licht aufflackern. Er hielt den Atem an und kauerte sich in das hohe Gras. Das war eindeutig ein Feuer. Aber dort brannte nicht die Savanne, sondern ein munter züngelndes Lagerfeuer.
Ihm lief es heiß und kalt den Rücken herunter. Er hatte es geschafft. Das mußten sie sein! Er wollte schon fast losrennen, laut rufend und winkend das Flußufer entlangstürmen, aber dann stutzte er.
Jetzt, wo er seinem Ziel so nahe war, kamen ihm plötzlich Bedenken. Wie würden sie reagieren, wenn er so unvermittelt auftauchte? Darüber hatte er bisher nicht nachgedacht. In jedem Fall sollte er wohl besser bis morgen warten und nicht einfach im Halbdunkel aus dem Dickicht treten, sonst waren die beiden oder die drei - wer war bloß der oder die dritte? -womöglich fähig, ohne Vorwarnung über ihn herzufallen. Man rechnete hier nicht unbedingt mit einem Überraschungsbesuch.
Andererseits, wenn er jetzt seinerseits ein Feuer entfachte, würden die anderen es vielleicht sehen und vielleicht kamen sie dann auf den Gedanken nachzuschauen, was denn da los war. Vielleicht stürzten sie sich auf ihn, wenn er in seinem Schlafsack lag und schlief, schlugen ihm einen Knüppel über den Kopf, bevor er überhaupt den Mund aufmachen und sagen konnte: »Seht her, ich bin der liebe Helmut Axt, und ich bin gekommen, um euch zu retten.«
Unsinn! Das waren zivilisierte Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, genau wie er. Die paar Wochen, die sie hier im Eozän verbracht hatten, würden sie nicht in blutgierige Wilde verwandelt haben, bei denen man auf alles gefaßt sein mußte.
Nein, er war seinem Ziel jetzt zum Greifen nahe und würde mit diesem Wissen sowieso kein Auge zu tun können. Außerdem hatte er keine Sekunde zu verlieren. Was hätte die ganze Hetzerei für einen Sinn gehabt, wenn er sich jetzt seelenruhig den Bauch vollschlug und in seinen Schlafsack verkroch, während dieser Tobias nur ein paar Meter entfernt weiterhin in Lebensgefahr schwebte.
Er rannte zu seinem Lagerplatz und stopfte hastig alles in seinen staubigen Rucksack zurück. Dann marschierte er los, direkt am Flußufer entlang, die Augen in der zunehmenden Dunkelheit immer auf diesen einen flackernden Lichtpunkt gerichtet, der ihm den Weg wies. Er hatte es geschafft. Er hatte sie eingeholt und ... sie lebten. Er lief immer schneller.
Dann hörte er ein Geräusch, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, kein tiefes Grollen, wie es für umherstreifende hungrige Großkatzen typisch ist, kein drohendes Brüllen irgendeines angriffsbereiten Ungetüms. Es war ein alltägliches, sehr vertrautes Geräusch, eines, das er hier zu allerletzt erwartet hatte und das seinen Verstand kurzzeitig in heillose Verwirrung stürzte.
Er hörte das laute Kläffen eines Hundes.
Er blieb kurz stehen, verwundert, verunsichert, ängstlich, aber dann riß er sich zusammen und lief weiter. Als er vielleicht noch hundert Meter entfernt war - das Hundegebell wollte kein Ende nehmen und er konnte im aufflackernden Licht des Feuers schon schemenhafte Umrisse von Menschen erkennen -, begann er zu rufen.
»Hallo!« schrie er, so laut er konnte. Sein Herz schlug in rasendem Tempo. »Hallo, ist da jemand? Hallo!«
Die Gestalten sprangen auf, liefen aufgeregt umher. Es waren mehr als zwei.
Er schrie weiter: »Hallo, keine Angst! Sie kennen mich! Mein Name ist Helmut Axt.«
Er fing an zu rennen. Im Rhythmus seiner Schritte schlug ihm der schwere Rucksack ins Kreuz.
Dann schaute er in ihre von Angst, Verwirrung und ungläubigem Erstaunen gezeichneten Gesichter. Sie standen jetzt bewegungslos im Halbkreis um das Feuer herum, auf dem Boden zwischen ihnen erkannte er seltsame Zeichen im Sand, und sie waren nicht zu dritt, sondern zu viert. Ein hysterischer Dackel stemmte sich vor ihm mit den Hinterbeinen in den Sand und veranstaltete ein ohrenbetäubendes Getöse.
Vom Laufen noch außer Atem ließ Axt seinen Rucksack auf den Boden fallen.
»‘n Abend«, sagte er schnaufend und grinste die verdatterte Gesellschaft an.
Die Kambrische Explosion
Nach ihrem ziemlich katastrophal verlaufenen Dschungelabenteuer hatten sie ein paar Tage Erholung in Herzogs Reich bitter nötig gehabt. Nur zwei Tage hatten sie sich in dem Irrgarten der Dschungelwasserläufe aufgehalten, zwei Tage und eine Nacht voller Mücken, Nässe und Angst. Das hatte gereicht.
Micha kam es vor wie eine Wiedergeburt. Er war satt und nach einem Bad im Fluß erfrischt und sauber. Er fühlte sich an eine Visitenkarte erinnert, die zu Hause an ihrer WG-Pinnwand hing:
Kein Name, keine Adresse, kein Beruf, kein Telefon, kein Geld ..., nur müde! stand darauf. Das traf ziemlich genau seine augenblickliche Gemütsverfassung. Schlafen und essen war das einzige, wonach er sich sehnte. Davon konnte er allerdings kaum genug bekommen. Ansonsten war er ziemlich bedürfnislos. Stundenlang konnte er nach unten in die von großen Tierherden bevölkerte Savanne gucken und sich an dem relativen Luxus erfreuen, den das Leben in Herzogs Behausung mit sich brachte.