Nach ein paar Tagen Erholung stand für Micha fest, daß er möglichst bald zurückfahren wollte, definitiv. Er hatte vorgehabt, sich auf keinerlei Diskussionen darüber einzulassen, aber es kam wieder zu einem hitzigen Streit zwischen ihm und Tobias, der ohne Zweifel in eine Schlägerei ausgeartet wäre, wenn Herzog sich nicht eingeschaltet hätte. Sie waren jetzt gut vier Wochen unterwegs, die Anreise nicht mitgerechnet. Es war höchste Zeit, sich wieder auf den Heimweg zu machen. Herzogs medizinische Versorgung von Tobias’ Verletzung mochte ja noch so fachmännisch gewesen sein, mit der Behandlung in einem modernen Krankenhaus konnte sie sich sicher nicht messen. Für Micha stand außer Frage, daß Tobias sich so schnell wie möglich in ärztliche Behandlung begeben mußte, wenn er seinen Arm hundertprozentig wiederherstellen wollte. Dem stand nun nichts mehr im Wege. Er war sich sicher, daß Claudia seine Meinung teilte.
Außerdem war es so abgemacht zwischen ihm und Tobias. Maximal acht Wochen hatten sie eingeplant. Das war für ihn das Äußerste gewesen. In Anbetracht der Tatsache, daß sie durch Tobias’ Verletzung stark gehandicapt waren und den gesamten Rückweg noch vor sich hatten, war diese Zeitspanne wohl schon jetzt voll ausgeschöpft. Seine Eltern würden sowieso Todesängste um ihn ausstehen. Sie waren es zwar gewohnt, daß er im Urlaub schreibfaul war und sich meistens nur eine magere Postkarte abringen konnte, aber zwei Monate ohne ein einziges Lebenszeichen, soweit war er bisher noch nie gegangen.
Die Heimkehr bereitete ihm schon seit langem Kopfzerbrechen, da er gezwungen sein würde, allen ein einziges riesiges Lügengebäude aufzutischen, ein Gedanke, der ihn mit Widerwillen erfüllte. Er hatte seinen Eltern erzählt, er würde wieder nach Griechenland fahren, und sie waren schon froh gewesen, als sie hörten, daß er nicht alleine fuhr. Tobias’ Eltern waren ja tot, da gab es niemanden, auf den er hätte Rücksicht nehmen müssen. Was Claudia zu Hause erzählt hatte, wußte er nicht.
Als er dann beim Abendessen sein Anliegen vorbrachte, stieß er jedoch auf erbitterten Widerstand. Tobias fiel fast sein Knochen aus der Hand.
»Wie bitte? Du spinnst wohl!« sagte er mit vollem Mund. »Jetzt umkehren? Das kann doch nicht dein Ernst sein, Micha.«
»Nicht umkehren, zurückfahren.« Er dachte, vielleicht störte Tobias sich nur an dem Wort umkehren. Es mochte in seinen Ohren wie eine Niederlage klingen. Aber weit gefehlt.
»Das läuft ja wohl auf dasselbe hinaus, oder? Wie kommst du nur auf so was? Wo wir es doch schon so weit geschafft haben.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, im Gegenteil, ich finde, wir könnten eigentlich bald weiterfahren.«
»Ich hör wohl nicht richtig?« Micha fehlten wirklich die Worte. »Du willst noch mal in diesen Dschungel? Dir hat das letzte Mal nicht gereicht, nein?«
»Und was ist mit deinem Arm?« schaltete sich Claudia ein.
»Was soll damit sein? Alles klar!« Tobias fuchtelte mit seinem Verband in der Luft herum. Der viele Regen hatte dem Lehm arg zu schaffen gemacht, und Herzog hatte den Verband nach ihrer Rückkehr sofort erneuern müssen.
»Das glaubst du doch selber nicht«, sagte sie.
Herzog saß schweigend dabei, rauchte seine mit merkwürdig riechenden tertiären Kräutern gestopfte Pfeife und machte ein teilnahmsloses Gesicht. Offensichtlich wollte er sich in diese Diskussion nicht einmischen.
»He, was ist los mit euch?« Tobias blickte zwischen Claudia und Micha hin und her und bekam große Augen. »Ihr habt euch abgesprochen, was? Ist wohl für euch schon beschlossene Sache. Ihr habt die Hosen voll oder Heimweh oder so was. Nee nee, nicht mit mir.«
»Quatsch, wir haben uns keineswegs abgesprochen«, widersprach Micha vehement. »Aber ich dachte .«
»Nein, kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte Tobias kategorisch. »Wir fahren weiter und damit basta.«
»Hör mal, Freundchen, so geht das aber nicht, klar?« rief Micha entrüstet. »Wir entscheiden immer noch gemeinsam, was wir tun. Wenn es dir egal ist, was aus deinem Arm wird, dann ist das deine Sache. Ich hoffe wirklich, er wächst dir genauso schief zusammen wie dein Gebiß. Dann hätte das Ganze wenigstens irgendwie Sinn und Verstand, verdammt noch mal. Aber ich darf dich daran erinnern, daß wir einmal eine Abmachung hatten. Wir sind jetzt fünf Wochen unterwegs, und wir haben damals beschlossen, ungefähr .«
»Na und? Erst mal sind es gerade gut vier Wochen, und jetzt dauert es eben etwas länger. Was macht das schon? Sei doch nicht so schrecklich unflexibel. Kommst mir manchmal vor wie ‘n alter Opa.«
»Tobias!« Micha wurde sauer.
»Tobias, Tobias«, äffte Tobias ihn nach. »Nee, so läuft das nicht, Leute. Wenn ihr glaubt, ihr könnt mich hier vor vollendete Tatsachen stellen, dann täuscht ihr euch aber gewaltig. Hier gibt’s noch so viel zu entdecken. Begreifst du denn überhaupt nicht, wo wir hier sind? Wir sind doch nicht die ganze Strecke bis hierher gefahren, um jetzt gleich wieder umkehren. Ich versteh das einfach nicht.«
»Ich hab’s dir doch erklärt. Im Gegensatz zu dir führe ich noch ein Leben außerhalb des Eozäns.«
Claudia versuchte es mit einer anderen Taktik. »Warum willst du denn noch mal in den Dschungel?«
»Na, ich will wissen, wie’s dahinter weitergeht«, sagte Tobias. »Da hat sich offensichtlich noch keiner hingetraut.«
»Du hast doch gehört, was Ernst gesagt hat. Der Wald ist riesig. Dahinter gibt’s nichts mehr.«
»So ein Blödsinn! Von wegen, dahinter gibt’s nichts. Glaubt ihr immer noch daran, daß die Erde eine Scheibe ist, oder wie? Ich sag’s ja, ihr habt nur die Hosen voll. Der große Biologe und die Berliner Kugelstoßmeisterin wollen nach Hause zu Muttern.«
Trotz seiner lautstarken Attacken merkte man ihm an, daß er seine Felle davonschwimmen sah. Seine Augen nahmen einen gehetzten Ausdruck an.
»Feiglinge!« stieß er verächtlich aus. »Wahrscheinlich wollt ihr euch zu Hause nur in euer trautes Liebesnest stürzen, und ich bin euch hier im Wege.«
Was Micha anging, hatte er damit gar nicht so unrecht, aber Claudia reagierte ziemlich ungehalten. »Mein Gott, Tobias! Was soll denn das jetzt? Du bist ein unerträglicher Angeber. Vor ein paar Tagen hast du dich noch zitternd und phantasierend auf dem Boden gewälzt und keine Sonne gesehen. Und jetzt markierst du hier den starken Mann. Du machst dich ja lächerlich.«
Schweigen. Tobias hatte sich abgewendet. Seine Kiefermuskulatur arbeitete.
»Es ist mein Boot.«
»Wie bitte?« Micha hatte ihn nur zu gut verstanden.
»Die Titanic gehört mir«, preßte er hervor. Seine Lippen zitterten vor Wut.
»Ach!« Micha blieb fast die Spucke weg. »So läuft der Hase jetzt. Dann gehört der Proviant mir und die Medikamente auch.«
»Behalt doch deinen Scheißproviant. Aber ohne das Boot seid ihr aufgeschmissen.«
»Und womit willst du weiterfahren? Die Titanic liegt unten an den Stromschnellen. Willst du sie hier raufschleppen? Ach so, klar, das würdest du mit deinem Arm auch noch fertigbringen, was? Hast ja noch die andere Hand, oder? Mann, du bist ein solches Arschloch.«
Tobias wirkte verunsichert. Die Sache mit dem Boot hatte ihm offensichtlich zu denken gegeben. Er schaute zu Herzog hinüber, aber der nahm die Pfeife aus dem Mund und schüttelte den Kopf.
»Das Floß bekommst du nicht. Das schlag dir mal gleich aus dem Kopf, mein Junge. Aber ... bevor ihr euch hier gegenseitig an die Gurgel springt ...« Er räusperte sich, schaute jeden einzelnen nacheinander ernst an, und Micha sah wieder diesen Vorwurf in seinen Augen, wie damals, als sie ihn zum ersten Mal trafen: Das hier ist nichts für euch, seht das doch endlich ein. »Es ist normalerweise wirklich nicht meine Art, mich in die Angelegenheiten anderer Leute einzumischen, schon gar nicht, wenn die meinen, unbedingt hierherkommen zu müssen, aber in eurem Fall ...« Sein Gesichtsausdruck hatte immer etwas Grüblerisches, aber jetzt sah er noch nachdenklicher aus als sonst. »... in eurem Fall ist das etwas anderes. Ich weiß selbst nicht so genau, warum. Vielleicht wegen meiner alten Freundschaft zu Sonnenberg. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich mache ich einen großen Fehler, aber aus irgendeinem Grunde kann ich es nicht mitansehen, wie ihr in euer Verderben lauft, so oder so. Vielleicht kann ich euch einen Kompromiß für euer Problem anbieten.«