»Wir müssen unbedingt diese Höhle finden«, sagte Tobias ein paar Tage später.
»So’n Quatsch! Das is irgend ne Höhle.«
»Nein, das ist ne besondere Höhle. Durch diese Höhle gelangt man in die Urwelt. Die vier Jungs im Film haben es doch gezeigt.«
»Du spinnst ja!«
So verliefen danach noch viele Diskussionen. Tobias behauptete irgend etwas, das der Film gezeigt hatte, Micha widersprach vehement, und Tobias schüttelte verständnislos den Kopf, wie er so etwas nur abstreiten könne, wo es doch im Film zu sehen war, von den Filmkameras eingefangen. Immer wieder dasselbe, es war zum Haare raufen.
Auseinandersetzungen dieser Art ließen ihre Freundschaft etwas ab kühlen. Er ärgerte sich über Tobias, über seine verbohrte Naivität, und ging ihm für einige Zeit aus dem Weg. In diesem Fall war er nicht bereit, Tobias’ Hirngespinsten zu folgen. Es war ein Spielfilm, nichts weiter. Er konnte einfach nicht nachvollziehen, warum Tobias ausgerechnet diesen Streifen so ernst nahm. Gorgo, Das Ungeheuer von Loch Ness, Die Reise zum Mittelpunkt der Erde oder Godzilla hatten doch auch nicht diese Wirkung gehabt.
Nach zwei, drei Wochen begann Micha, seinen Freund zu vermissen. Ihm fehlten die Anregungen, die scheinbar unerschöpflichen Phantasie, die ihn aus seinem Phlegma reißen konnte. Er langweilte sich, wußte nichts mit seiner Zeit anzufangen. Als er dann wieder auf Tobias zuging, tat dieser so, als wäre nichts geschehen. Ohne zu zögern hieß er ihn in seiner Welt willkommen, und Micha atmete erleichtert auf.
Dieser rasche Wechsel oder vielmehr dieses Durcheinander von Faszination und Mitleid, Begeisterung und Enttäuschung war für seine Beziehung zu Tobias charakteristisch gewesen. Jetzt war er sich allerdings nicht mehr so sicher, ob dieses Mitleid nicht zu einem beträchtlichen Ausmaß auch ihm selber gegolten hatte, wenn er sich ein Leben ohne den Freund vorstellte. Er brauchte ihn damals, und wenn auch nur, um sich wenigstens hin und wieder jemandem überlegen zu fühlen.
Eines Tages erzählte ihm Tobias, sein Vater dächte darüber nach, Berlin zu verlassen, um irgendwo in Westdeutschland eine neue Arbeit anzunehmen. Er erzählte das so, als ob alles noch ganz unklar sei und erst in ein paar Jahren akut werden könne, jedenfalls hatte diese Äußerung kaum Eindruck auf ihn gemacht. Vielleicht hatte er sich auch einfach nicht vorstellen können, daß man Tobias und ihn so einfach mir nichts, dir nichts auseinanderreißen könnte.
Um so überraschter war er dann, als er keine zwei Wochen später einen Anruf bekam. Seine Mutter war an den Apparat gegangen und hielt ihm nach einer Weile mit gekräuselter Stirn den Hörer hin. Am anderen Ende der Leitung war ein völlig aufgelöster Tobias, der ununterbrochen weinte und schluchzte, so daß er ihn kaum verstehen konnte. Aber eines wurde ihm klar: Tobias war mit seinen Eltern nach Stuttgart umgezogen und wollte ihm Lebewohl sagen. Dann wurde das Gespräch abrupt unterbrochen.
Dieser Anruf war das letzte, was er von Tobias gehört hatte. Bis jetzt.
Axt war das Wochenende über allein zu Hause. Marlis war mit Stefan zu ihren Eltern nach Berlin gefahren. Der Junge war ganz vernarrt in seine Großeltern und hatte schon tagelang von nichts anderem mehr geredet. Sie gingen mit ihm in den Zoo, in den Zirkus oder ins Kino, alles Aktivitäten, zu denen sein chronisch überarbeiteter Vater nur mit Mühe zu bewegen war. Na ja, in ein paar Tagen fuhren sie für zwei Wochen nach Dänemark, in ein Ferienhaus. Vielleicht konnte er im Urlaub wieder etwas gutmachen.
Er saß im Wohnzimmer und blätterte in der Tageszeitung, aber mit seinen Gedanken war er im Präparationsraum der Senckenberg-Station und bei dem Schieferblock, den sie gestern geborgen hatten. Er war so unruhig, daß er sich kaum auf die Zeitung konzentrieren konnte. Irgendwann sprang er auf, warf die Zeitung auf den Glastisch, holte seine Jacke und verließ das Haus. Teufel noch mal, er hatte sich zwar vorgenommen, am Wochenende nicht zu arbeiten, aber dieses ungewöhnlich große Fundstück ließ ihm einfach keine Ruhe. Er mußte wissen, was sie da gefunden hatten. Er konnte nicht länger warten, nicht eine Minute.
Der Rolltisch mit dem Schieferquader stand mitten im Präparationsraum der Station, noch immer dick verpackt. Hier wirkte er noch größer als unten in der Grube. Axt kochte sich einen Kaffee und entfernte dann vorsichtig die Plastikfolie, das feuchte Zeitungspapier und den Holzrahmen. Bedeckt von einer dicken Schicht Polyurethanschaum sah der Gesteinsblock aus wie ein rekordverdächtiges Tortenstück.
Er machte sich daran, den Schieferquader mit Hilfe einer Säge vorsichtig zu stutzen. Von allen Seiten trennte er Scheibchen für Scheibchen in mühevoller, zeitraubender Feinarbeit, zuerst so lange, bis der Tisch durch die Tür des Röntgenraumes paßte und dann nur noch am Fuß- und Kopfende, damit das Objekt sich unter das Gerät schieben ließ. Glücklicherweise stieß er bei dieser heiklen Arbeit auf keine Spuren des im Quader eingeschlossenen Fossils. Sie hatten beim Heraustrennen des Schieferblocks genügend Spielraum gelassen.
Als er das erste Mal auf die Uhr schaute, war es halb elf abends. Sollte er den Fund jetzt noch anschauen? Bis er alles aufgeräumt und zusammengepackt hatte, würde es halb zwölf sein, und er wäre nicht vor Mitternacht zu Hause. Er hatte den ganzen Tag über nichts gegessen und fühlte sich müde und abgespannt, nicht ganz in der Verfassung für einen so grandiosen Moment. Durch die stundenlange ruhige Arbeit hatte sich seine Aufregung etwas gelegt, und er konnte nun auch noch bis morgen warten. Es war ein gutes, befriedigendes Gefühl, sich diesen spannendsten aller Vorgänge aufzuheben, wie die Lieblingspraline, die man als letzte in der Packung zurückbehielt, um sie in einem besonders genußvollen Moment zu verspeisen.
Er befeuchtete den Schieferblock noch einmal gründlich von allen Seiten und wollte gerade wieder die Plastikfolie herumwickeln, als ihn plötzlich eine derart brennende Neugier überkam, daß er sich nicht mehr beherrschen konnte. Er kicherte in der nächtlichen Stille der verlassenen Station vor sich hin und schob den Tisch mit dem Schieferblock unter das Röntgengerät. Anschließend lief er hinüber in den kleinen Nebenraum, in dem sich der Schirm befand.
»So, jetzt der große Moment«, sagte er zu sich selbst, genoß es aber, den Augenblick noch etwas länger herauszuzögern.
Es waren noch ein paar Handgriffe nötig, bis ein einigermaßen scharfes Bild auf dem Schirm erschien, im ersten Moment nur ein undurchschaubares Gewirr von Knochen.
Das Bild traf ihn wie ein Blitzschlag. Axt wußte sofort, was er da sah, obwohl alles in ihm sich gegen diese Erkenntnis sträubte. Er hielt die Luft an. Sein Mund stand offen.
Himmelherrgott, das, was er da sah, war absolut unmöglich.
Oder die größte wissenschaftliche Sensation des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihm wurde heiß. Er spürte, wie sich jedes einzelne Haar an seinem Körper selbständig machte.
Durch die Tür hörte er plötzlich leise Geräusche aus dem Präparationsraum, ein Rascheln, Wispern. War da jemand? Er fuhr herum, sprang auf, aber da war nichts, nur die herumliegende Folie und Stapel feuchten Papiers.
Er lief zurück zum Röntgenschirm, drehte in sinnlosem Aktionismus an ein paar Knöpfen herum und starrte entgeistert auf das, was in dem Schieferquader zu stecken schien. Aufkeimende Wut bildete einen bitteren Geschmack auf seiner Zunge, Wut und Enttäuschung. Nach dem langen, fast einwöchigen Vorspiel, den vielen Stunden, die er heute daran gearbeitet hatte, der kaum zu bändigenden Vorfreude, war dieser Anblick fast unerträglich.
Der Schädel war zerborsten und plattgedrückt, aber der Unterkiefer schien völlig intakt zu sein. Einige Rippen waren ebenfalls gebrochen.
Jetzt fielen ihm weitere Details auf. Die Elle des linken Armes war ein paar Zentimeter unterhalb des Ellenbogengelenks gebrochen und nur schlecht wieder zusammengewachsen. Mußte ziemlich schmerzhaft gewesen sein, das sah nach einem komplizierten Bruch aus.