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Vielleicht hätten ja auch seltsame rote schleimige Algenkissen die Gunst der Stunde nutzen und das Land als erste in Besitz nehmen können, so daß sich etwaige Nachfolger, zum Beispiel die grünen Pflanzen, mit einem Stehplatz begnügen müßten. Zu einer Randexistenz verurteilt und auf Grund des großen Entwicklungsvorsprungs ihrer Konkurrenten hoffnungslos zurückgefallen, wären sie anstatt zu Bäumen, Gräsern und Blumen vielleicht zu form- und bedeutungslosen grünen Klumpen geworden. Und wer weiß, vielleicht hätte die Flora und Fauna der Erde ein gänzlich andersartiges Aussehen angenommen, wenn nicht Individuum A, sondern B den entscheidenden Schritt an Land gewagt hätte, weil B sich in vielen kleinen Details von A unterschied.

Die Möglichkeiten und Konsequenzen dieser Gedanken waren so schwindelerregend, daß Micha kaum wagte, sich von der Stelle zu bewegen, aus Angst, mit einer unachtsamen Bewegung, einem unvorsichtigen Schritt, ja, einem einfachen Atemzug die Fauna und Flora ferner Erdzeitalter zu vernichten.

Aber er mußte bald einsehen, wie unsinnig diese Angst war. Der freigewordene Platz würde ja von jemand anderem eingenommen werden. Nur das Verschwinden der einen ermöglichte das Aufblühen der anderen Gruppe. Ohne das Aussterben der Trilobiten hätten viele andere Meereslebewesen vielleicht nie eine Chance zur Entfaltung bekommen, und ohne die Vernichtung der Dinosaurier wären die Säugetiere möglicherweise die kleinen, nachtaktiven, scheuen Wesen geblieben, die sie im Erdmittelalter waren, mit großer Sicherheit aber wäre der Mensch so nie entstanden.

In der großen Lotterie des Lebens, im permanenten Auf und Ab des Werdens und Vergehens wurden die Hauptgewinne immer wieder neu verteilt. Wer heute eine Niete zog, in einer verborgenen und geschützten Nische aber am Leben blieb, erwischte morgen vielleicht das große Los.

Daß ihre eh schon arg gebeutelte Welt in der jetzt so fernen Neuzeit auf diese hinterhältige Weise, durch die Ignoranz abenteuersuchender Urzeittouristen oder den Größenwahn irgendwelcher Möchtegerngötter gefährdet werden könnte, hätte Micha sich selbst im Traum nie vorzustellen gewagt.

Hätte er um diese Gefahr gewußt, er wäre nie soweit gefahren.

Aber mit Sicherheit war ihr Besuch harmlos im Vergleich zu dem, was passierte, wenn die Wissenschaft von der Höhle Wind bekam. Genau das war ja Herzogs große Befürchtung. Vielleicht hatten sie es hier mit jemandem zu tun, der sich die Möglichkeiten der Höhle ganz bewußt zunutze machte. Was, wenn hier tatsächlich jemand mit der Geschichte des Lebens herumexperimentierte? Werkzeuge, die den Wissenschaftlern durch Zufall in die Hände fielen und neue Wege der Forschung eröffneten, waren in der langen Geschichte der Naturwissenschaften selten ungenutzt geblieben. Wer gentechnologische Forschung betrieb und die Welt, trotz aller Risiken, mit transgenen Mischgeschöpfen bevölkern wollte, würde vor direkten Experimenten mit der Evolution nicht zurückschrecken.

Axt zitierte in diesem Zusammenhang den Ausspruch irgendeines schlauen Menschen. »Wer nur einen Hammer hat, dem erscheint die ganze Welt als Nagel«, hatte er gesagt.

»Ja«, brummte Herzog daraufhin, »und er wird sich damit verdammt leicht und sehr schmerzhaft auf die Finger hauen.«

Trotz der unheimlichen Möglichkeiten, die sich da als drohende Unwetterwolken abzuzeichnen begannen, kam Micha die Eile, die Herzog und Axt an den Tag legten, reichlich übertrieben vor. Die Chance, daß sie dem Unbekannten begegnen würden, war angesichts der riesigen Ausdehnung des Dschungels, die Herzog früher bei jeder Gelegenheit betont hatte, gleich Null. Zudem hatten sie ja mit eigenen Augen gesehen, wie unübersichtlich und unzugänglich das Gelände war. Es stellte ein so unüberschaubares Gewirr von Wasserläufen, Sumpfflächen, dichten Urwäldern und tückischen Schlammlöchern dar, daß die Chance, diesem Saboteur des Lebens, diesem Evolutionsterroristen, das Handwerk legen zu können, außerordentlich gering war. Daran festzuhalten grenzte fatal an Augenwischerei und eine tragische Verkennung der Realitäten. Andererseits, irgend etwas mußte geschehen. Wenn Herzogs Befürchtungen auch nur ansatzweise zutrafen, dann könnten sich in Zukunft statt fossiler Fledermausskelette noch ganz andere Sachen in Luft auflösen.

Ein weiterer Abend am Lagerfeuer und wieder ein Gespräch über die großen Tragödien in der Geschichte des Lebens, die Massenaussterben. Seltsam, daß es für ein solches Wort überhaupt einen Plural gibt.

»Und was wird aus all dem hier?« fragte Claudia. Die Frage war an alle gerichtet und eher rhetorisch gemeint. Sie wußte ja, daß in den Zoos der Zukunft keine Dinotherien, sondern Elefanten herumstanden. Aber sie schaute zu Axt hinüber, der neben Herzog am Feuer saß.

»Humus, was denn sonst«, antwortete Tobias. »Und Fossilien.«

Axt schmunzelte. »Ich würde sagen, eigentlich nichts Besonderes. Fast alle Phasen des Massenaussterbens gingen mit einer deutlichen globalen Abkühlung einher, und in etwa zehn Millionen Jahren wird es mal wieder soweit sein. Eine Generation von Säugetieren wird abtreten und einer neuen Platz machen. Das seit dem Zeitalter der Dinosaurier herrschende Treibhaus- wird relativ schnell in ein Kühlhausklima umschlagen. Was dann aus dieser tropischen Welt hier werden wird, kann man sich ja vorstellen. Alles, was lebt, wird versuchen nach Süden auszuweichen, Richtung Äquator. Die Lebensräume werden drastisch zusammenschrumpfen. Wenn sie Glück haben, schaffen sie es .«

»Siehst du, Ernst!« rief Tobias dazwischen. »Er spricht auch von Glück.«

Axt schaute irritiert. »Na ja, und wenn nicht ...«

Schweigen.

Typisch Wissenschaftler, dachte Micha. Wahrscheinlich hatte Claudia die Frage anders gemeint, irgendwie poetischer.

Seit ihm bewußt war, daß ihr Handeln hier die Zukunft und damit die Bedingungen ihrer eigenen Existenz mitbestimmte, bewegte er sich ganz anders, viel bewußter, vorsichtiger. Durch die Zeitreise war ihre eigene Gegenwart, das Holozän, zur fernen Zukunft geworden, und sie konnten nun zu Opfern ihrer eigenen Fehler werden.

Je näher sie dem Urwald kamen, desto seltsamer wurde das Verhalten von Helmut Axt. Micha war schon in den Tagen zuvor aufgefallen, daß der Paläontologe aus irgendeinem nicht recht nachvollziehbaren Grund die Nähe von Tobias suchte. Anfangs war er sich nicht sicher, aber jetzt war es nicht mehr zu übersehen. Er fand das verwunderlich, da Tobias Axt sehr kühl und distanziert behandelte, während er bei den anderen schon lange als gleichberechtigtes Gruppenmitglied akzeptiert war. Tobias hingegen würdigte ihn weiterhin kaum eines Blickes, widersprach ihm, wo er nur konnte, und zeigte alle Symptome einer ausgeprägten Antipathie. Trotzdem blieb Axt immer in seiner Nähe, behielt ihn stets im Auge. Wenn Tobias einmal außer Reichweite war, wurde er nervös, unterbrach eine Unterhaltung mitten im Satz und entfernte sich unter fadenscheinigen Begründungen vom Lager, um ihn zu suchen.

Als dann in einiger Entfernung die grüne Wand des Dschungels vor ihnen auftauchte, hing er an Tobias wie eine Klette und rückte ihm so auf die Pelle, daß Tobias einmal wutschnaubend herumfuhr und ihn anbrüllte, er solle ihm gefälligst nicht andauernd in die Hacken treten und dieses ewige Herum-geschwänzel gehe ihm total auf die Nerven. Er brauche keinen Aufpasser und einen Liebhaber schon gar nicht. Axt zuckte wie unter Schmerzen zusammen, schaute betreten zu Micha und den anderen hinüber und hielt fortan etwas mehr Abstand zu Tobias, ohne in seiner merkwürdigen Wachsamkeit nachzulassen.

Als sie den Dschungel erreicht hatten - sein dunkles Grün sah wunderbar aus -, hielt Herzog an und wartete, bis alle aufgeschlossen hatten. Sie befanden sich jetzt in der Nähe der Stelle, wo das Floß lagerte.